Lange hat man ja im Bernerhof gehofft, dass «dieser Kelch an uns vorübergeht», wie sich Peter Siegenthaler, Chef der Finanzverwaltung des Bundes, rückblickend erinnern wird, um nachzuschieben, da habe man «möglicherweise zu lange in der Beobachterrolle verharrt». Ja, Siegenthaler ist im Rückblick durchaus selbstkritisch: «Wenn man da die Entscheidvorbereitung ab Beginn 2001 etwas intensiver vorangetrieben hätte, dann wäre vielleicht die am Schluss getroffene Lösung etwas besser gewesen und/oder man hätte möglicherweise auch noch andere Lösungen gehabt. Der Spielraum von Alternativen ist in der Realität dann sehr rasch klein geworden.» Oder anders gesagt: Villiger, der Bundesrat und die Verwaltung sind im Innersten nicht darauf vorbereitet, was kommen könnte. Die Entscheidungsträger haben keine vorsorglichen Abklärungen getroffen, keine Szenarien erarbeitet. Und sie haben keinen Präzedenzfall, auf den sie kurzfristig zurückgreifen können. Und nun kommt also der Chef der nationalen Airline und will Geld vom Staat. Villiger besitzt kaum Informationen, weiss nicht, wie es wirklich um die Fluglinie steht, hat keine exakten Zahlen und schon gar kein schriftliches Gesuch vorliegen. Ihm fehlt die Zeit, sich die notwendigen, gesicherten Informationen zu beschaffen, sie zu analysieren und dann zu entscheiden, wie es jedes Managementhandbuch in einer solchen prekären Situation empfehlen würde.
Um die Jahrtausendwende befinden wir uns ausserdem in einer gesellschaftlichen Übergangsphase: Das Internet dringt seit den 1990er-Jahren ins Leben der Menschen und in die Unternehmen ein, 2001 implodiert an der Börse gerade die erste Interneteuphorie. Die Digitalisierung treibt die immer stärkere Arbeitsteilung und damit die Globalisierung an, die Anforderungen an Wirtschaftsführer und Politiker verändern sich rasant. Nicht mehr nationale Netzwerke sind entscheidend, sondern internationale. In der Schweiz haben neue, angelsächsisch geprägte Banker die alten Bankdirektoren abgelöst. Und nun soll ein Politiker alter Schule wie Kaspar Villiger das Schlamassel, das ihm «seine» Wirtschaftsführer eingebrockt haben, aufräumen. Eine Herkulesaufgabe. Villiger ist ein stiller Schaffer, der noch zu Zeiten der Schweiz AG gross geworden ist, als die Netzwerke ihm zuerst im Lokalen, dann in der Region und im Kanton Luzern zur nationalen Karriere verholfen haben. So hievte man ihn, den eher scheuen, nachdenklichen Innerschweizer, vor zwölf Jahren in den Bundesrat. Nun befindet er sich in der Schlussphase seiner Regierungszeit. Villiger wird später schreiben: «Die Swissair-Krise war die komplexeste, die man sich nur vorstellen kann. Unter fast wahnwitzigem Zeitdruck und mit einer Unzahl von Mitspielern mit eigenen Agenden sowie mit schriller politischer und medialer Begleitmusik musste eine Lösung gefunden werden, welche die Infrastruktur vor der Implosion bewahrte und die Direktanbindung unseres hochentwickelten Wirtschaftsstandortes an die wichtigsten Wirtschaftszentren sicherte.» Villiger fehlt zu diesem Zeitpunkt das Mittel, auf das Betroffene in Krisen gerne zurückgreifen: auf Analogien aus der Vergangenheit. Villiger hat weder eine Blaupause einer Airline-Rettung, von der er sich inspirieren lassen kann, noch ein Entscheidungsset, erarbeitet aus vorherigen Fällen, wie der US-Politikwissenschaftler und Professor Barry Eichengreen es als probates Mittel für die Krisenbewältigung im Nachgang zur Finanzkrise zehn Jahre später propagieren wird. Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerats wird 2002 in ihrem Bericht denn auch monieren, dass «der Bundesrat keine Szenarien geprüft hat für den Fall, dass die Restrukturierung und Refinanzierung der SAir-Group scheitert oder der Konzern zahlungsunfähig wird».
Der Bundesrat beschliesst am 21. September, der Swissair zu helfen – aber nur subsidiär und höchstens als Aktionär. Villiger will keine direkte Bundeshilfe, die Initiative müsse von den beteiligten Stakeholdern kommen, also von den Aktionären und Banken. Villiger setzt lieber auf das Netzwerk mit Leuten, die aus seiner Sicht mehr Erfahrung mit solchen Krisensituationen haben: auf einen Wirtschaftsführer wie Ulrich Bremi, den, wie Villiger schreiben wird, «hochangesehenen» Zürcher Ex-Wirtschaftsführer und Ex-Politiker, der ihm breiter vernetzt scheint als er selbst. Villiger wird später sagen, er habe nicht den FDP-Mann geholt, sondern einen erfahrenen und bewährten Wirtschaftsfachmann. Doch der FDP-Politiker wird dabei erleben, dass auch Netzwerke ein Ablaufdatum haben und sich zudem kaum eignen, um Krisen zu bewältigen. Bereits das alte Swissair-Netzwerk im Verwaltungsrat der Airline ist in Nullkommanichts zerrissen, als sich im Frühling 2001 die Zeichen der Krise der Swissair immer stärker manifestieren. Oder anders gesagt: Villiger setzt auf die Netzwerke des 20. Jahrhunderts. Die Schweiz aber ist im 21. Jahrhundert angekommen.
Die Uhr tickt – und der Swissair zerrinnt das Geld zwischen den Fingern. Zwei Tage nach dem Bundesratsbeschluss weiss die SonntagsZeitung, über wie viel Geld tatsächlich diskutiert wird: «Die Swissair benötigt vier Milliarden Soforthilfe.» Und bevor der Bund einbezogen werde, müssten die Banken handeln: «Es kann nicht sein, dass sich die Banken aus der Verantwortung schleichen», zürnt laut der Zeitung Finanzminister Villiger. Während sich die Beteiligten via Medien den Schwarzen Peter zuspielen, suchen die «Basler» unter den Swissair-Leuten intern nach einem Konzept, das die beiden Airlines Swissair (Langstrecken) und Crossair (Europaverkehr) unter einen Hut bringen könnte. Corti ist erleichtert, etwas Handfestes zu haben, und präsentiert den Bundesräten dieses Konzept. Doch die Regierung will weiterhin keine Kredite sprechen, weil es keine Rechtsgrundlage dafür gebe. Aber wollte nicht Bundesrat Pascal Couchepin eine Staatsintervention? Peter Siegenthaler bestätigt, im Bundesrat habe es auch Stimmen gegeben, die «von Anfang an für eine Rettung der Swissair waren». Aber die hätten sich nicht durchsetzen können, weil «die Zahlen so erschreckend waren, da wären wir bald bei zweistelligen Milliardenbeträgen gelandet». Innerhalb kürzester Zeit sind die zur Rettung benötigten Mittel von einer Milliarde auf über vier Milliarden Franken in einen Bereich gestiegen, der es Politikern verunmöglichte, zu sagen: Wir schaffen das! Die Regierung ist sich nicht einig und versteckt sich deshalb hinter rechtlichen Vorwänden. Kaspar Villiger selbst ist hin und hergerissen: Eine Staatsintervention möchte er als Freisinniger nicht, die Airline kaputtgehen lassen, ist ebenfalls keine Option. Er misstraut in dieser Krise zudem dem wichtigsten Mann auf der Gegenseite, Mario Corti, da dessen Zahlen für eine das Überleben sichernde Unterstützung in den Gesprächen immer wieder variieren und immer höher werden. Villiger hat auch Vorbehalte gegen die Person Corti: «Corti war ein intelligenter Ehrenmann, aber vom Typ her wohl nicht der geborene Krisenmanager.» So ist es in einer Krise: Das Vertrauen ist schnell weg, wie Philipp Hildebrand, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und heute Vizepräsident beim Vermögensverwalter Blackrock, trocken festhält: «In Krisen verlieren Führungspersonen in der Privatwirtschaft schnell ihre Glaubwürdigkeit und sind dann nicht mehr Teil der Lösung.» Und auch Villiger erkennt: «Die Männerbünde aus dem Militärdienst gibt es längst nicht mehr.» Corti, zum Zeitpunkt der Swissair-Krise 55 Jahre alt, hat in der Armee zwar nicht die ganz grosse Militärkarriere gemacht, es aber immerhin zum Fachoffizier gebracht. Er hat Recht studiert, 1971 seine Doktorarbeit abgeliefert und fünf Jahre später an der renommierten Harvard-Universität bei Boston einen MBA, also ein Nachdiplomstudium in Management und Politwissenschaften absolviert. Corti liebt das Fliegen – als Hobbypilot. Gerade dabei braucht es Sorgfalt und Perfektion als Grundvoraussetzung. Das Wirtschaftsmagazin Bilanz schreibt in einem Porträt im Frühling 2001 über den neuen Swissair-Chef: «Er checkt dies, misst jenes, und vor allem vergisst er selten – falsch: Er vergisst nie.» Universität, Bund, Privatwirtschaft – so sieht eine typische und erfolgreiche Schweizer Karriere im 20. Jahrhundert aus. Das hätte auch für Corti weiterhin seine Gültigkeit gehabt, hätte der Hobbypilot nicht jenen Anruf von Eric Honegger am 9. März 2001 entgegengenommen. Nun fehlt ihm alles, was er an Beruf und Hobby liebt: Zeit, Information, Kontrolle. Sein Blick aus dem Swissair-Cockpit ist getrübt wie auf einer winterlichen Autofahrt in einen warmen, feuchten Tunnel: Die Scheiben beschlagen sich urplötzlich. So ist Corti in diesem Krisenmoment nicht klar, wie hoch die Airline noch fliegt, wie viel Treibstoff, sprich Geld, sie noch hat, was es für das Durchstarten brauchen würde. Oder ob eine Notlandung unausweichlich ist. Seinem Gegenüber im Krisenmoment geht es genauso. Auch Kaspar Villiger fehlt der Durchblick im Polit-Cockpit. Soll der Bund gegen alle seine Prinzipien doch handeln und in die Privatwirtschaft eingreifen? Oder haben diejenigen – auch aus seiner Partei – recht, die ihm sagen: Die Swissair ist Gift, der Staat sollte die Finger von ihr lassen? Villiger muss sich entscheiden: Will er Patriot sein? Oder will er der Parteiideologie folgen? In den USA haben die Politiker weniger Skrupel: US-Präsident George W. Bush, Republikaner, unterschreibt am 22. September 2001 ein Hilfspaket für die dortige Airline-Industrie, das Direkthilfe in der Höhe von fünf Milliarden Dollar umfasst und den notleidenden Fluggesellschaften weitere zehn Milliarden Dollar in Form von Darlehen anbietet. In der Schweiz dagegen hoffte man, «dass das Problem gelöst werden könnte, wenn alle Beteiligten bereit wären, einigermassen symmetrisch grosse Opfer zu erbringen. Aber das erwies sich als unmöglich», erklärt sich Kaspar Villiger heute.
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