Philippe Bruggisser begriff schon früh in seinem Leben als Manager, wie Führen in einer grossen Firma funktioniert: Seine Ziele sollte man nie selbst formulieren – man lässt sie durch externe Experten ausarbeiten. Mit einer Flut von Folien werden sie schliesslich dargelegt und zur Umsetzung empfohlen. Will der Chef sparen, dann heisst die Strategie: Sparen. Will er ausbauen, dann empfiehlt die Unternehmensberatung: Ausbauen. Die Consultants sind nicht auf den Kopf gefallen: Wer es sich mit dem CEO nicht verdirbt, darf auf Folgeaufträge hoffen. Bei der Swissair werden unter Bruggisser scharenweise Rollkoffer-Kommandos von Unternehmensberatungsgesellschaften wie McKinsey, Roland Berger und Co. ein- und ausgehen und Linienmanager mit ihren Vorschlägen unterlaufen.
Die Swissair steht 1997 in der Tat vor Grundsatzfragen: Kann sie als letztlich mittelkleine Airline selbstständig überleben? Und wenn ja, wie? Oder sollte sie sich einer der in den 1990er-Jahren entstehenden Airline-Allianzen anschliessen – und falls ja, welcher? Diese Frage ist einfacher zu beantworten als die Ersteren. Als idealer Partner steht eigentlich nur British Airways zur Diskussion. Deren Hub London Heathrow ist weit genug weg, um Zürich als zweite Drehscheibe nicht zu gefährden. Das wäre bei Lufthansa mit Frankfurt oder Air France mit Paris nicht der Fall. Alternativ haben die Berater von McKinsey für Bruggisser berechnet, wie der Aufbau einer eigenen Allianz aussehen könnte. Sie nennen das Projekt «Hunter»: Wie ein Jäger müsse die Swissair ihre Beute unter den kleinen und mittleren Airlines in Europa suchen, um zusammen mit ihnen etwas Grosses entstehen zu lassen – eine Allianz unter der Führung der Swissair, längerfristig eine einzige grosse europäische Airline, geführt von der Schweiz aus. Der vierte Weg wäre dies, sozusagen. Ohne mit den Briten, den Franzosen oder den Deutschen anbandeln zu müssen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist ja schon getan: 1996 hat sich die Swissair bei der belgischen Sabena eingekauft.
Ein Alleingang ist riskant. Aber ein Zusammengehen mit einem der Grossen der Branche auch. Denn die Swissair wäre wohl nur als Juniorpartner dabei und müsste mittelfristig sogar befürchten, ihre Eigenständigkeit zu verlieren. «Habe ich mich mein gesamtes Berufsleben für die Swissair abgerackert, um dann den Steuerknüppel den Briten zu übergeben?», muss sich Bruggisser zu später Stunde gefragt haben, als er alleine in seinem bescheiden eingerichteten Büro sitzt. Soll er als neuer CEO tatsächlich Totengräber der eigenständigen Swissair sein? Oder wagt er das, was alle für unmöglich halten, nämlich den Aufbau eines eigenen Airline-Verbunds? Was Bruggisser gerne tun würde, ist klar. Aber findet der Verwaltungsrat den Mut, diesen riskanten Weg mitzugehen?
Überhaupt, dieser Verwaltungsrat – er ist gespickt mit grossen Namen aus der Schweizer Wirtschaft. Da kann es einem Aargauer Finanzfachmann schon etwas schummrig werden: Der Chef der Credit Suisse sitzt dort, Lukas Mühlemann, genauso wie Robert Studer, Spitzenmann der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG). Der Präsident des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse, Andres Leuenberger, Privatbankier Bénédict Hentsch, Thomas Schmidheiny, Hauptaktionär des Zementriesen Holcim sowie der FDP-Politiker Eric Honegger. Doch Bruggisser weiss, wie man die Fäden zieht. Und er weiss auch, dass CS-Chef Mühlemann einst McKinsey Schweiz leitete und damit viel Wohlwollen für ein Projekt wie «Hunter» haben müsste. Also entscheidet er sich – obwohl sich die Briten gerne mit der Swissair zusammengetan hätten – für den Vorschlag, den Alleingang zu wagen. Der Verwaltungsrat stimmt dem beinahe besessen wirkenden Chef tatsächlich zu. Nach all diesen auf Flugzeuge fixierten Piloten im Chefsessel der Swissair überzeugt der neue Chef nun mit seinen soliden Zahlen. Ein fataler Fehler, wie sich zeigen wird. Doch bevor wir vorausschauen: Blicken wir kurz zurück, um zu verstehen, was bei der Swissair strukturell im Argen liegt und weshalb ein einziger Mann wie Philippe Bruggisser die Firma an den Rand des Abgrunds bringen kann – und darüber hinaus.
Die Festgesellschaft sitzt fröhlich an den Tischen. Speis und Trank waren bis hierhin köstlich. Nun tritt der Festredner nach vorne, schaut den Jubilar lächelnd an und erinnert sich bei seiner Lobrede an manch fröhlichen Herrenabend, zu dem der heute Gefeierte geladen hatte: «Diejenigen, die dabei sind, werden mir dankbar sein für meine Diskretion, und sie werden sich in diesem Augenblick an höchste geistige Intensiverlebnisse, an überaus fruchtbare Vermittlung von Lebenserfahrung und Weisheit in prägnantester Form erinnern, an balletthafte Selbstdarstellungen des höheren zürcherischen Managements von elefantösem Charme, an rednerische Entfesselungskünste und mimische Leistungen von internationalem Format, an Gabentempel mit Dingen von nicht zu überbietender Zweckmässigkeit. Und sie werden dem, der ihnen dieses jährliche Füllhorn an kollektivem Vergnügen stiftet, eine begeisterte Ovation darbringen.»
Der da spricht an diesem Tag im Jahr 1982, ist Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung: Fred Luchsinger hält die Festrede zum 60. Geburtstag von Robert Holzach. Robert Holzach wiederum ist seit 31 Jahren bei der SBG, hat sich Schritt für Schritt hochgearbeitet und ist nun seit zwei Jahren Verwaltungsratspräsident einer der damals vier Grossbanken der Schweiz. Doch er ist nicht nur das, Präsident einer Schweizer Firma – er ist sozusagen Präsident der Schweiz AG: der meist- und bestvernetzte Schweizer Wirtschaftsführer seiner Zeit, mit unzähligen offiziellen und inoffiziellen Verbindungen in Unternehmungen rundum. Verbindungen, die er mit ebendiesen HHA pflegte: Holzachs Herrenabenden, die der oberste Schriftleiter der angesehensten Zeitung der Schweiz soeben lobte. Der Wirtschaftsjournalist Claude Baumann veröffentlichte 2014 eine Biografie über Robert Holzach 4und ist während seiner Arbeit ebenfalls auf die Erzählungen über diese Anlässe gestossen. Baumann schreibt: «Tatsächlich waren Holzachs Herrenabende ein vielgestaltiges Beziehungs- und, wenn man so will, auch Machtnetz, von dem indessen alle Teilnehmenden profitierten. Bundesräte wie Kurt Furgler, Wirtschaftsvertreter wie der Swissair-Chef Armin Baltensweiler, der Generalunternehmer Karl Steiner oder der Kaderstellenvermittler Egon Zehnder, aber auch FDP-Nationalrat Ulrich Bremi waren da inmitten anderer Holzach-Freunde zugegen. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Gast die SBG als Hausbank hatte. Was zählte, war einzig und allein die Persönlichkeit, mit der Holzach seinen Abend verbringen wollte. Im Prinzip schuf er sich so seinen eigenen Rotary oder Lions Club.» Die HHA sind dabei Kulminationspunkt einer Konzentrationsbewegung, die sich seit dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn der Abschottung der einheimischen Wirtschaft entwickelt hatte.
Vor dem Ersten Weltkrieg gehört die Schweiz zu den sich am schnellsten industrialisierenden Ländern Europas, und ihre Wirtschaft ist – wie heute auch – auf offene Grenzen angewiesen. Deshalb wandern hoffnungsvolle Jungunternehmer gerne in die Schweiz ein, so etwa der aus Deutschland zugewanderte Heinrich Nestle (später Henri Nestlé) oder Walter Boveri (Mitgründer der Brown, Boveri & Cie., heute ABB). Sie profitieren vom liberalen Geist hierzulande und gründen und führen ihre eigenen Firmen. Das ändert sich ab 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs und der Befürchtung, dass ausländische Firmenchefs der Schweiz gegenüber illoyal sein und Sympathien für ihre Herkunftsländer hegen könnten. Diese Abschottungstendenz verstärkt sich mit und nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglicht erst die Bildung eines engen Kreises von Wirtschaftsführern, welche die Schweizer Wirtschaft immer stärker dominieren sollten.
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