Die Leserinnen und Leser sollten sich bei der Lektüre des Buchs bewusst sein, dass Erinnerungsarbeit – sowohl der Befragten wie des Autors – immer lückenhaft ist. Und nicht nur das: Der Mensch schafft sich seine eigenen Realitäten, rückt sich die Ereignisse im Rückblick oft etwas zurecht, bewusst und unbewusst. Genauso willkürlich ist die Auswahl der vom Autor verwendeten Zitate: Ein anderer Schreiber hätte möglicherweise eine andere Gewichtung vorgenommen. Mir schien sie die richtige zu sein. Weil wir ja in einer Welt der Transparenz leben, finden Sie am Ende des Buchs die Transkripte der von mir geführten Gespräche. 2Damit können Sie sich nochmals ein eigenes, Ihr ganz persönliches Bild machen. Und so können Sie «Ihre» Geschichte lesen – eine besondere Art von Exklusivität. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.
«Vielleicht», sagt Peter Kurer, «vielleicht würde ich das heute nicht mehr so sagen. Aber wir waren einfach hässig!» Die schlechte Laune des Chefjuristen der UBS kommt an diesem Septemberwochenende im Jahr 2001 nicht von ungefähr. Erstens war es ein langer Tag, die Uhr zeigt schon 1.30 Uhr an. Zweitens hat Kurer noch nie in seinem langen Berufsleben ein solches Tohuwabohu an Zahlen und Fakten erlebt. Und drittens provoziert ihn Roche-Manager und Economiesuisse-Präsident Andres Leuenberger mit einem herablassenden Spruch über die Banken. Da verliert der ansonsten sehr kontrolliert auftretende Jurist in Bankdiensten seine Fassung und kanzelt den Wirtschaftsmann ab: «Ich wäre an einem Wochenende auch gerne anderswo als hier, um eure Probleme zu lösen!» Die «Probleme» sind gross in diesen Herbsttagen des Jahres 2001. Die «nationale Airline» Swissair steht vor dem Ende. Seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001, seit «9/11», geht nichts mehr am Himmel, und am Boden schaut der amtierende Swissair-Chef Mario Corti verzweifelt zu, wie das Geld von seinen Konten verschwindet.
Nun sollen Kurer und dessen Chef, UBS-Verwaltungsratspräsident Marcel Ospel, helfen, die Airline zu retten. Doch die Menge Geld, die vonnöten ist, wird immer grösser. Bald spricht man von einem zweistelligen Milliardenbetrag. Die UBS-Männer haben null Lust, sich um diesen Scherbenhaufen zu kümmern. Denn erstens haben ihn andere verbockt. Zweitens gehört zu diesen «anderen» der Chef der Konkurrenz, nämlich Lukas Mühlemann, CEO der Credit Suisse (CS). Und drittens haben sie die Verantwortlichen seit mindestens einem halben Jahr vor diesem Fiasko gewarnt.
Was Peter Kurer in diesem Moment nicht weiss: Man kann zwar recht haben, muss aber nicht unbedingt recht bekommen. Eine Woche später werden er und seine Bank als die «Bösen» in diesem Spiel wahrgenommen werden.
Doch beginnen wir von vorne: Es ist ein Buchhalter, der den UBS-Mann Peter Kurer Ende September 2001 in diese Notlage treiben wird. Nicht, dass dieser das so gewollt hätte. Die Pläne des Zahlenfetischisten treiben nicht alleine Kurer, sondern viele andere zur Verzweiflung. Es sind die Ereignisse, die zur wohl prominentesten Pleite der Schweiz führen werden.
Das Grounding der Swissair
Philippe Bruggisser sieht nicht aus wie der typische Spitzenmanager. Die Figur hochgeschossen und überschlank, das Gesicht länglich, die Augen versteckt hinter einer dezenten Brille – hier kommt eher ein Buchhalter daher als ein geborener Leader. Als er 1997 CEO der Swissair wird, nimmt ihm denn auch nicht gleich jeder die neue Rolle ab. Die Medien schreiben über den neuen Chef, er sehe aus wie ein «Durchschnitts-Schweizer», sie mäkeln über den ehemaligen Controller, er sei «kühl, unnahbar und undiplomatisch», seine Sitzungen glichen Befehlsausgaben, sogenannt weiche Themen, Gefühlsäusserungen oder intuitive Einschätzungen seien unerwünscht.
Bruggisser selbst, Sohn eines Aargauer Strohhutfabrikanten, sagt zur Kritik nur, er sei «nicht hier, um beliebt zu sein». 3Der Aargauer, mittlerweile 49 Jahre alt, wollte eigentlich Lehrer werden, studiert aber nach der Ausbildung am Seminar in Wettingen Wirtschaft und Recht in Basel und Genf, kommt via eine Grossbank 1979 zur Swissair und kümmert sich dort vor allem um die Zahlen, zuerst als Controller, dann als Finanzchef Nordamerika. Wie tüchtig er als Chef sein kann, beweist er, als er die Beteiligungsgesellschaften der Airline übernimmt und dabei die für die Dualstrategie wichtigen Nebengeschäfte – also alles, was nicht mit dem Flugbetrieb direkt zu tun hat – erfolgreich saniert und rentabel macht. Alle anderen im Unternehmen denken zu Beginn, das sei ein Himmelfahrtskommando und werde damit enden, dass Bruggisser diese Nebengeschäfte wird abstossen müssen. Das liebt dieser Bruggisser: aussichtslose Lagen wenden, an den eingeschlagenen Weg glauben: «Ich lebe für die Aufgabe, die mir übertragen wurde.» Ja, Bruggisser ist ein Chrampfer, er stürzt sich in die Sache, die sich für ihn meistens in den Zahlen spiegelt. Da ist er zu Hause, nicht in der Gefühlswelt. Für diese ist er offensichtlich weniger geschaffen: Zu scheu, zu zurückhaltend ist der Zahlen-Riese aus dem Aargau.
Die Dualstrategie ist sein Gesellenstück bei der Swissair, das ihm den Weg an die Spitze ebnen wird: Das oft volatile Fluggeschäft, anfällig für Launen und Krisen, soll stabilisiert werden durch weniger anfällige Geschäfte wie Catering, technischer Unterhalt oder Duty-free. Deshalb hat sich die Swissair eben gerade als Holding-Gesellschaft organisiert und nennt sich von nun an SAir. In dieser Holding gruppieren sich die verschiedenen Gesellschaften, von der Airline bis zum Catering. Oben in der Zentrale laufen alle Fäden zusammen, beim neuen Vorsitzenden der Geschäftsleitung, Philippe Bruggisser.
Dieser kühle Rechner führt also nun als Chef der Holding ganz offiziell die Geschicke der «nationalen Airline», der Swissair. National? Ja, national, wie der Circus Knie, der sich gerne als «National-Zirkus» gibt: gut schweizerisch, solide, ein verlässliches Produkt. Die grössten in der Branche, die Platzhirsche, streichen gerne und oft ihre Swissness heraus, vor allem, wenn es dem Geschäft nützt – Positives, was man mit der Schweiz verbindet, deckt sich mit dem Geschäftsinteresse und überträgt sich auf die Firma: Wer mit der Swissair fliegt, wird auch immer begleitet von Schweizer Werten wie Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität. Im Fall der Swissair kommt dazu, dass sich der Staat mit drei Prozent beteiligt hat und über längere Zeit im Verwaltungsrat vertreten ist.
Wenn nun also dieser Philippe Bruggisser in seinem neuen Büro als Chef der SAirGroup sitzt, dann weiss er leider auch, dass da einige Probleme der «nationalen Airline» auf ihn warten. Das Fluggeschäft hat sich in den letzten 15 Jahren massiv verändert. Nun muss sich auch die Swissair wandeln. Noch vor wenigen Jahren bezeichneten die Zeitungen sie voller Bewunderung als «fliegende Bank». Aber seit der damalige US-Präsident Ronald Reagan in den 1980er-Jahren mit harten Schnitten den Flugverkehr liberalisierte, ist alles anders geworden: Die Swissair kann nicht mehr nur in ihrem Heimmarkt sitzen und Flüge von Punkt zu Punkt anbieten. Auch der Vorteil, als Airline eines neutralen Staats viele Destinationen in Afrika exklusiv anfliegen zu können, ist seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs dahin.
Ja, seine Vorgänger haben schon versucht, vieles in Bewegung zu bringen. Und ja, sie sind mit ihren Plänen grandios gescheitert. Als sie Anfang der 1990er-Jahre ein Projekt namens «Alcazar» vorantreiben, schwappt ihnen eine Welle der Entrüstung entgegen. Nationalisten, Puristen, Konservative wollen das «Nationale» der Airline bewahren und nicht in eine Kooperation mit Airlines aus Holland, den nordischen Ländern und Österreich einwilligen, bei der vermutlich die KLM und nicht die Swissair den Steuerknüppel bedienen, ja die Scandinavian und die Austrian Airlines mit im Cockpit sitzen würden. Noch bevor es überhaupt abheben kann, zerschellt das Projekt Alcazar.
Читать дальше