Eine von vielen Möglichkeit, wie wir die eigenen Talente nachhaltig entwickeln können, ist somit der Beruf, den wir wählen.
Das Wort Beruf kommt von Berufung. Das Ständesystem des Mittelalters kannte die »innere Berufung« und die »äußere Berufung«. Die Arbeit der Menschen war sehr stark vom christlichen Weltbild eines göttlichen Plans bestimmt. Im Zuge der Säkularisierung verschwanden die religiösen Aspekte der Arbeit, die sozialen Verpflichtungen blieben jedoch im Rahmen der Arbeitsteilung erhalten. Heute sind mit dem Berufsinhalt, neben der Sicherung eines Einkommens und dem Erwerb von Rentenansprüchen, auch persönliche Lebens-Inhalte, individuelle Interessen, Wertvorstellungen, Ziele, soziales Ansehen und gesellschaftliche Wertschätzung verknüpft. Unser Beruf bestimmt maßgeblich unsere Sicht auf die Welt.
Beruf und Privatleben formen und beeinflussen sich im gegenseitigen Wechselspiel. Hier wird bereits spürbar, dass sich eine Kluft zwischen unserer natürlichen Sehnsucht nach Gemeinschaft, gesellschaftlicher Wertschätzung, schöpferischer Freiheit und dem normierten, vom Menschen und vom Produkt entfremdeten Berufsleben unserer Zeit auftut. Oft beobachte ich, dass der einseitige Berufsalltag meiner Patienten einer dringend notwendigen Lebensumstellung im Weg steht. Die berufliche Monotonie lässt ihre Sinne, Gedanken, ihre Intuition und ihre Lebenskraft verkümmern. Während einzelne Firmen ihre Mitarbeiter im Bereich Achtsamkeit und Ressourcenmanagement schulen, ist der großen Masse an Arbeitgebern bei der Vorstellung, mit wachen, bewussten und achtsamen Mitarbeiten konfrontiert zu sein, eher unwohl. Ja, einem ganzheitlichen, achtsamen Blick auf die Welt wohnt ein gesellschaftskritisches Potenzial inne.
Zurück zum Hamsterrad des Alltags. Ein Europäer mit einer achtzigjährigen Lebenserwartung verbringt rund acht Jahre seines Lebens mit Arbeit, vierundzwanzig Jahre mit Schlaf und zwölf Jahre mit Fernsehen. Es ist nicht verwunderlich, dass ich in meinem Praxisalltag feststelle, dass Berufswahl, Freizeitgestaltung und Konsumverhalten sich gegenseitig stark beeinflussen. Doch liegen besonders am Arbeitsplatz und in der Gestaltung unserer Freizeit wichtige Faktoren für eine gesunde Psyche und eine stabile körperliche Gesundheit verborgen.
Unser Arbeitsleben setzt den Tag- und Nachtrhythmus außer Kraft. Smartphones und elektrisches Licht rauben vielen Menschen die Ruhe zum Schlaf. Früher war die Hauptaufgabe des Menschen die Nahrungssuche. Heute stopfen wir uns mit industriell hochverarbeiteten Füllstoffen voll, die uns nicht nähren, sondern als trügerische Ersatzbefriedigung Entzündungen, Allergien und Fettsucht fördern. Das ständige Abgehetztsein, oft, ohne einen wirklich produktiven, sichtbaren und nachhaltigen Sinn der eigenen Arbeit zu erkennen, führt zur Verkümmerung unserer Atemmuskulatur. Flaches, gestresstes Atmen fördert Müdigkeit, Schlafprobleme, Herzerkrankungen, schwächt das Immunsystem, lähmt den Magen-Darm-Trakt und befeuert Nacken- und Rückenschmerzen. Beobachten Sie Ihre Atmung – sie verrät viel über unseren physischen und psychischen Gesundheitszustand.
Kommen neue Patienten in meine Praxis, ist es üblich, dass ich neben einer sehr ausführlichen Krankenanamnese auch den Lebensweg und den beruflichen Werdegang meiner Besucher studiere. Alles ist wichtig! Genau das zeichnet die Naturheilkunde aus. Und nein, dabei geht es nicht um Placebo-Gespräche. Es geht um die strategische Entwicklung eines neuen Lebenskonzeptes. Dieses herausfordernde Ziel braucht vollste Aufmerksamkeit und viel Zeit. Für viele Menschen hört sich das anstrengend an. Wir haben verlernt, uns Zeit für uns selbst zu nehmen, und damit meine ich nicht die tägliche Dosis Fernsehen, Internet oder Selbstoptimierung im Fitnessstudio. Weil wir vergessen haben, wie es ist, Zeit in der Stille zu verbringen, sich produktiv mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen und Innenschau zu betreiben, erscheint vielen die Vorstellung einer tief forschenden, naturheilkundlichen Sitzung beim Heilpraktiker als anstrengend.
Oft dauert es eine Weile, bis Patienten erkennen, dass eben diese Vernachlässigung ihrer selbst, also das unentwegte Suchen im Außen, den Kern ihres Problems birgt.
Weitere wichtige Informationen über mein Gegenüber entdecke ich in der Familiengeschichte, in Schicksalsschlägen, prägenden Lebensereignissen und in Vorerkrankungen aller Art. Wie ist der enge Freundeskreis aufgebaut, was verrät der Beruf, welche Sehnsüchte, Wünsche und Ängste bringt ein Patient mit, und, ja, sogar die Gestaltung der eigenen Wohnung spielt beim Erstgespräch eine wichtige Rolle.
Der Versuch, den Menschen in seiner Ganzheit kennenzulernen, ist eine wichtige Voraussetzung, um die meist brachliegenden Selbstheilungskräfte zu wecken. Dabei ist Geduld und Einfühlsamkeit ein wichtiger Therapiebaustein. Die Bereitschaft des Patienten, Zeit in diese Prozesse zu investieren, ist von ganz entscheidender Bedeutung. Viele Menschen beginnen erst durch Schicksalsschläge verschiedenster Art, ihren Lebensweg zu hinterfragen. Wenn wir mit offenen Augen durchs Leben gehen und damit aufhören, existenzielle Fragen zu verdrängen, wird es uns möglich, auch ohne schmerzhafte Erfahrungen »umzukehren«. Es ist von äußerster Wichtigkeit für das eigene Seelenwachstum, dass man die Konsequenzen des eigenen Handelns stets hinterfragt. Was löse ich mit meinen täglichen Entscheidungen aus? Nützt mein Verhalten zum Beispiel meiner Gesundheit oder den Menschen in meinem Umfeld? Wie wirkt sich mein Konsumverhalten auf Natur, Tier- und Pflanzenwelt aus, oder unterstütze ich durch meinen Beruf oder meinen Lebenswandel menschliches Leid und die Ausbeutung von Arbeitskräften? Auf welchen Kosten, die andere tragen müssen, ist mein Leben aufgebaut? Lassen Sie zu, dass auch Ihre alltäglichen Entscheidungen zu echten Gewissensfragen werden, denn unser Gewissen ist ein unsichtbarer Draht zum Göttlichen, der Schlüssel zur Intuition, der Weg zur Ganzheitlichkeit, ein Pfad zu uns selbst und zu unserer Berufung. Wir können eben immer nur so gesund und glücklich sein wie unser Umfeld.
Mein großes Interesse für Überlegungen dieser Art führte dazu, dass ich mich schon früh zum Heilpraktiker berufen fühlte. Ich verspürte einen tiefen Drang, die in mir sprudelnde Neugier gegenüber dem Leben und der Natur auch in anderen Menschen zu wecken. Anderen Menschen die Augen für die Schönheit und Komplexität der Natur zu öffnen, war mir schon immer ein großes Anliegen. Dass wir bei der Begegnung mit der Natur nur uns selbst begegnen, ist vielen von uns gar nicht bewusst. Es ist faszinierend, wie sehr sich Menschen verändern, wenn sie einen Urlaub am Meer, in den Bergen oder auch nur ein paar Stunden im Wald verbringen. Immer wieder beobachte ich, wie klar ihr Blick wird, sich ihre Haut, ihre Art zu sprechen und vor allem ihr Denken verändert und sich der Schleier des Alltags langsam wie ein Nebel auflöst. Raus aus dem Büro und rein ins Grüne!
Mein Beruf erleichtert mir eine solche Lebenseinstellung, und aus meiner Perspektive erscheint die Frage, die man mir so oft stellt, warum ich nicht Arzt, sondern Heilpraktiker geworden bin, wie eine rhetorische Frage.
Besonders schätze ich die Unabhängigkeit und Vielseitigkeit des Heilpraktikerberufs. Die Therapiefreiheit von Heilpraktikern sorgt dafür, dass unsere Praxen einige der wenigen Orte im Gesundheitswesen sind, die noch wirklich gelebte Individualität verkörpern. So ist es jedem einzelnen Heilpraktiker möglich, aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung und Philosophie sein ganz spezielles Angebot zu entwickeln. Das ist etwas sehr Wertvolles, denn ganzheitliche Heilung vollzieht sich immer im zwischenmenschlichen Kontakt.
Der Beruf des Heilpraktikers hat sich über Jahrhunderte hinweg behauptet und in der Gesellschaft etabliert. Ungeachtet aller Trends und Zeitgeister ist der Heilpraktiker ein Brückenbauer zwischen Medizin, Naturkunde, Spiritualität und Seelsorge geblieben. Zahlreiche weitere Berufe und Bewegungen sind aus ihm hervorgegangen. Es bestehen enge Verbindungen zwischen der Entstehung der Reformhäuser, der biologischen Landwirtschaft, der reformpädagogischen Bewegungen oder der Etablierung von den heute so beliebten Fasten- und Naturheilkundezentren. Das Heilpraktikerwesen stellt also eine wichtige Opposition zum Massenbetrieb der konventionellen Gesundheits-, Ernährungs-, Umwelt- und Bildungspolitik dar. Es waren überwiegend Heilpraktiker, die in den 80er-Jahren die Kunst der Akupunktur, Meditation und Yoga in den Westen importierten. Anfangs verlacht, sind diese Verfahren heute Therapiemethoden, die selbst von Ärzten verordnet und von Krankenkassen anerkannt werden.
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