Stoff und Themen gibt es also genug, um in den folgenden Kapiteln den Werdegang Jakob Zollingers nachzuzeichnen. Zumal da auch noch vom Kleinbauernbub aus einer religiösen Familie, vom erfolgreichen und vom leidenden Schüler, vom Lehrer, vom Erzähler, vom politischen Kämpfer ganz eigener Art, vom Ehemann, vom Vater und vom Lebemann, der er zeitweise auch war, zu berichten ist.
Zollikon, Oberottikon, Herschmettlen
Die Zollinger hiessen ursprünglich Zolliker und stammen aus Zollikon am Zürichsee. 1332 ist das Geschlecht in Grüningen und in den umliegenden Gemeinden, also auch in Gossau, erstmals nachgewiesen. Das hat der junge Jakob Zollinger Ende der 1940er-Jahre bei seinen Nachforschungen im Staatsarchiv und auf dem Notariat Grüningen herausgefunden. Die Familienchronik begründet er in seinen Jugendjahren und führt sie bis 1947. Dann übernimmt beim Umzug der Familie auf den neu erbauten Bauernhof im Grüt sein Vater Emil die Aufgabe, womit sie zu einer eigentlichen Hofchronik wird. Ab 1967 verfasst sein älterer Bruder Fritz weitere Einträge.
Der erste bekannte Vorfahre der Familie Zollinger ist Peter. Er wird 1535 in Oberottikon geboren. In dieser Zeit verbreitet sich Zwinglis Reformation im Zürcher Oberland. Die Kirchgemeinden führen deswegen erstmals zuverlässige Tauf-, Ehe- und Todesregister. Von diesem Zeitpunkt an lässt sich die Geschichte der Familie nachverfolgen. So ist im Gossauer Taufregister für den 4. April 1557 die Geburt des ersten Sohnes von Peter Zollinger vermerkt. Johannes ist sein Name, und als Taufzeugen sind Hans Isler aus dem Hanfgarten und Anna Dürsteler aus Adletshausen aufgeführt. Jörg Zollinger – ein weiterer Sohn von Peter Zollinger – wird 1592 als Schneider zu Ottikon bezeichnet. Der Chronist vermutet, dass Jörg nur im Nebenberuf als Schneider gewirkt hat, weil in jener Zeit die Bauernhöfe so klein sind, dass ein Zusatzeinkommen unabdingbar ist. Drei Generationen später heiratet Hans Jacob Zollinger im Jahr 1723 Anna Egli aus dem Nachbardorf Herschmettlen. Weil ihm sein Vater Ezechiel keinen Hof hinterlässt, zieht er mit seiner Einheirat nach Herschmettlen um. Von nun an bleibt die Familie Zollinger über mehr als 200 Jahre bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts in der südlichsten Aussenwacht der Gemeinde Gossau sesshaft. Das Ehepaar Zollinger-Egli hat sieben Kinder, von denen aber drei das Kindesalter nicht überleben – die Kindersterblichkeit ist zu dieser Zeit hoch. 1732 wirkt Hans Jacob – genannt Jagli – in der Kirchgemeinde Gossau als «Ehegaumer». Als verlängerter Arm des Pfarrers ist er dabei eine Art Sittenpolizist. In der Gemeinde gibt es sechs solche Ehegaumer. Weil sie jeweils am Sonntag nach der Predigt in der Kirche beisammen stillstehen und aktuelle Fragen besprechen, heisst ihr Gremium Stillstand – es ist quasi der Gemeinderat. Diese Institution beleuchtet Jakob Zollinger in einer Abhandlung zur Gossauer Kirchengeschichte, die er 1982 in der Vierjahresschrift Gossau – Deine Heimat publiziert. In ihrem Amtseid müssen die Ehegaumer schwören, Hurerei und Ehebruch anzuzeigen. Ebenso haben sie Ehescheidungen zu verhindern sowie das Schwören, Gotteslästerung, Trunksucht, Spielen, Tanzen und andere Laster zu bekämpfen. Das ist alles andere als ein leichtes Pflichtenheft, das Amt ist denn auch nicht begehrt. Hans Jacob Zollinger absolviert eine Amtszeit von zwei Jahren. Die Bedeutung seiner Funktion unterstreicht die Tatsache, dass der Grüninger Landvogt die Ehegaumer vereidigt.
Hans Heinrich, der jüngste Sohn des Ehepaars Zollinger-Egli, heiratet 1761 die Baumerin Susanna Spörri und übernimmt den elterlichen Hof. Das Paar hat nicht weniger als elf Kinder, von denen aber ebenfalls sechs im Kindesalter sterben. Weil es üblich ist, dem nächstgeborenen Kind den Namen des zuletzt verstorbenen zu geben, haben Susanna und Hans Heinrich zwei Töchter namens Anna Cleopha und vier Knaben mit dem Namen Hans Jakob.
Zu Lebzeiten Hans Heinrichs beginnen die Eintragungen des Notariats Grüningen. So kann Jakob Zollinger nachverfolgen, welche Käufe und Verkäufe von Äckern, Wiesen und Waldparzellen getätigt werden. 1775 kauft Hans Heinrich gemäss Grundbuch einen Acker und drei weitere Grundstücke rund um Herschmettlen. Im Gegenzug verkauft er ein Wegrecht. Bei seinem frühen Tod im Jahr 1783 mit erst 45 Jahren hat er seinen Hof auf sieben Grundstücke vergrössert. Als 1797 die Mutter Susanna stirbt, leben nur noch vier Kinder: die Söhne Hans Jakob und Felix sowie die Töchter Maria und Susanna. Die Brüder zahlen die beiden ledigen Schwestern aus. Maria bekommt 35 Gulden, Susanna 40. Das Geld wird ihnen allerdings erst bei ihrer Heirat ausbezahlt, und das zinslos. Bis dahin haben sie ein Wohnrecht bei ihren Brüdern. «Womit sie dann des gänzlichen ausgericht heissen seijn und bleiben, und an ihre Brüder des väter- und mütterlichen Erbguts halber weiter nichts zu suchen noch anzustreben haben sollten», lautet der unmissverständliche behördliche Kommentar zu dieser Abfindung. Gleichzeitig teilen die Brüder den Hof auf. Sie bauen eine zweite Wohnung an die bestehende an und teilen diese mittig – eine damals übliche Methode, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Diesem Phänomen, dem sogenannten Unterschlagen einer Wohnung, widmet sich der Bauernhausforscher Jakob Zollinger 150 Jahre später intensiv.
Im gleichen Jahr 1797 heiratet Felix Zollinger Anna Diener aus Binzikon-Grüningen. Das Paar hat acht Kinder, zwei weitere Knaben werden tot geboren und nur gerade zwei der Kinder überleben das Kindesalter. Im Totenregister der Kirchgemeinde ist damals als häufigste Todesursache «Gichter» – eine Krankheit, die sich in Krämpfen und Lähmungserscheinungen äussert – genannt. Die Säuglinge sterben in der Regel im Alter von einem bis fünf Monaten.
Für kurze Zeit bricht damals die europäische Geschichte in die kleine Welt zuoberst im Glatttal ein. Fremde Truppen besetzen die Schweiz während der Koalitionskriege. Im August 1799 bietet sich den Einheimischen ein besonderes Spektakel. Der russische General Alexander Korsakow zieht mit seinem Heer südlich des Herschmettler Haushügels Gerbel auf der alten Landstrasse Rapperswil–Zürich vorbei. Eine Woche später folgen die verbündeten Österreicher unter General Friedrich von Hotze. Er bezieht mit 5300 Mann im nahen Grüningen Quartier. Ganz Herschmettlen soll dem Durchzug der Truppen staunend zugeschaut haben. Einen Monat später geht es in die umgekehrte Richtung zurück: Die in der zweiten Schlacht von Zürich geschlagenen Russen ziehen plündernd ostwärts ab, verfolgt von den siegreichen Franzosen. Vor allem auf den Höfen in der Fuchsrüti richten sie grosse Schäden an.
Das Wappen der Familie Zollinger mit einem Auszug aus dem Stammbaum. Jakob Zollinger hat es als 19-Jähriger recherchiert und in seiner Familienchronik dargestellt. In der untersten Reihe finden sich Jakob und seine fünf Geschwister.
Doch zurück zu den privaten Angelegenheiten der Familie Zollinger. Die Brüderteilung führt auch zu einer Präzisierung des Familiennamens. Um die beiden Zollinger-Zweige auseinanderzuhalten, gibt man ihnen Beinamen. Seit Ezechiel haben seine Nachkommen den Beinamen «s’Zäche» getragen, jetzt kommt Felix hinzu. «S’Zäche Felixe» ist fortan der Beiname des Zweigs, dem Jakob Zollinger entstammt. Die Familie bleibt nicht untätig. Es gelingt Felix, durch zahlreiche Zukäufe sein Heimwesen in den folgenden Jahren markant zu vergrössern. Bei seinem Tod umfasst es nahezu acht Jucharten; vier Jahrzehnte zuvor waren es lediglich dreieinhalb Jucharten – eine Jucharte entspricht etwa dem dritten Teil einer Hektare. Der einzige Sohn von Felix, Hans Jakob, ist dann weit weniger rührig. Er ist auf dem Landhandel kaum aktiv und stirbt bereits 1858 mit 56 Jahren. Ob er selbst an der wenig ruhmreichen Züriputsch-Episode der Herschmettler beteiligt war, ist nicht belegt, es ist aber wahrscheinlich. Die konservativen Bauern auf der Landschaft zwingen damals die liberale Zürcher Regierung zum Rücktritt. Am 6. September 1839 zieht eine Schar Herschmettler, mit Stöcken und Knüppeln bewaffnet, gegen Zürich. Aber schon vor dem Wirtshaus Hirschen in Egg «muss der Durst grösser gewesen sein als ihr Patriotismus» heisst es in der Zollinger-Chronik. Die Männer bleiben im Wirtshaus hängen. «Als ihr Freiheitsdrang genug mit Flüssigem abgekühlt war, schenkten alle ihre Waffen der Wirtin als Brennholz» – so viel zu den Herschmettler Kriegshelden.
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