Das Ehepaar Zollinger rätselt monatelang, wie es zu dieser Doktorwürde gekommen ist. Wer nur hat das eingefädelt? Denn von selbst geschieht so etwas nicht, sind sich die beiden einig. Bekannt ist, dass der Volkskundler Arno Niederer ein grosser Bewunderer von Zollingers Arbeiten gewesen ist. Ihm hat Heinz Lippuner, Wetziker Kantonsschullehrer aus dem Grüt und Privatdozent an der Universität, Ende der 1990er-Jahre erstmals die Idee eines Ehrendoktors Zollinger gesteckt. Doch dann verstirbt Niederer, und Lippuner verlässt altersbedingt die Universität. Er erzählt seinem Nachfolger in der Vereinigung der Privatdozenten, Ruedi Schwarzenbach, dem Rektor der Wetziker Kantonsschule, jedoch von dieser Idee. Die Privatdozenten schlagen am Ende die Promotion vor, und die zuständige Prüfungskommission kommt zu einem positiven Ergebnis. Jakob Zollinger hat diese Geschichte nicht mehr erfahren.
Aber ist er von der späten Ehrung tatsächlich so sehr überrascht worden, wie er in seinem Dankesbrief an Professor Weder schreibt? Da sind doch Zweifel angebracht. Einerseits verweist er auf wiederholte Anspielungen in seinem Bekanntenkreis. Das Thema muss also immer wieder einmal aufgegriffen worden sein. Und dann ist er in seinem kurzen Brief an Rektor Weder auch nicht um die Nennung von Ehrendoktor-Kollegen unter den Lokalhistorikern verlegen: Heinrich Hedinger aus dem Zürcher Unterland, Heinrich Krebser aus Wald und der Wädenswiler Peter Ziegler. In diese Reihe passt der Name Jakob Zollinger fraglos ausgezeichnet, das muss auch ihm klar gewesen sein.
Wie dem auch sei – es finden sich zahlreiche Personen, die diese späte Ehrung Jakob Zollingers für sein lebenslanges Forschen gutheissen. Für Ruedi Schwarzenbach ist Zollinger ein beispielhafter Forscher auf dem Land, der aus persönlichem Interesse und ohne akademischen Hintergrund wichtige Forschungsarbeiten betrieben hat. Heinz Lippuner sagt, für seine tiefschürfenden Forschungen habe Zollinger den Ehrendoktor mehr als verdient. Ein schönes Beispiel für das grosse Echo, das die Ernennung ausgelöst hat, ist der Gratulationsbrief, den ihm der Grütner Hausarzt Christoph Meili im Sommer 2003 geschrieben hat:
«Lieber Jakob
Die Würdigung Deines Lebenswerkes mit dem Ehrendoktortitel freut uns ausserordentlich. Deshalb vor allem, weil er die Anerkennung einer Leistung bedeutet, die nicht dem Ehrgeiz des Karrieredenkens entsprungen ist. Es ist ein beseeltes Werk, so auch eine Gnade, es schaffen zu müssen und zu können. Wir glauben deshalb in Deinem Sinne zu denken, wenn wir meinen, dass für Dich die grösste Genugtuung darin besteht, dass die «Gesellschaft» den kulturschaffenden und -erhaltenden Wert deiner Arbeit beachtet und damit Zeugnis ablegt von einem immanenten Verantwortungsgefühl.
Wir wünschen Dir noch für lange Zeit die Kraft, auf Deinem Weg weiterzugehen.
Mit herzlicher Gratulation und lieben Grüssen Ch. und Ch. Meili»
Jakob Zollinger bezeichnet in seiner Antwort das Glückwunschschreiben des Ehepaars Meili als die «treffendste und zugleich gehaltvollste und tiefsinnigste von all den vielen Gratulationen», die er habe entgegennehmen dürfen.
In einer Ecke des Estrichs ihres Müllerhauses in der Ottiker Chindismüli findet Elisabeth Zollinger-Anliker 15 Jahre nach dem Ehrentag an der Universität Zürich nach einigem Stöbern eine prall gefüllte Schuhschachtel voller Glückwunschschreiben zum Ehrendoktor. Gut 200 sind es, allesamt in zollingerschem Sammeleifer aufbewahrt. Viele von ihnen hat Jakob Zollinger schriftlich verdankt und beantwortet. Seminarkollegen, Jugendfreunde, Lehrerinnen und Lehrer, einzelne Schüler, Nachbarn und viele mehr drücken ihre Freude aus über den wohlverdienten Ehrentitel. Manche freut besonders, dass ein Nichtakademiker zum Zuge gekommen ist. Peter Surbeck, Ustermer Sekundarlehrer und Historiker, drückt es treffend aus: «Die Würde eines Dr. h. c. war meines Erachtens lange Zeit in dem Sinne zweifelhaft, als nur bereits gekrönten Häuptern eine weitere Krone aufgesetzt wurde. […] Dabei war dieser Ehrentitel in der Vergangenheit sicher für Nichtakademiker gedacht, die aus bescheidenen Anfängen heraus Grosses geschaffen haben. Und das ist bei dir der Fall!» In manchem Schreiben kommt der Stolz zum Ausdruck, dass ein Oberländer aus einfachen Verhältnissen berücksichtigt worden ist – und in der Ehrung des Kollegen, des Mitbürgers, des Vereinsmitglieds sonnt man sich auch gern ein wenig. Das betonen Glückwunschschreiben des Stadtrats von Uster, des Gemeinderats Gossau, der Antiquarischen Gesellschaft Wetzikon, der Sektion Bachtel des Schweizerischen Alpen-Clubs. Ja, selbst aus Kalifornien liegt ein Glückwunschschreiben vor. Der Swiss Athletic Club in San Francisco gratuliert – stellvertretend – Jakob Zollingers Bruder Emil, genannt Migg, zur Ehrendoktorwürde seines Bruders in der fernen Heimat. Auch ein ehemaliger Schüler Zollingers möchte sich vom Ruhm eine kleine Scheibe abschneiden. Auf seiner Gratulationskarte bemerkt er trocken, wenn ihn künftig jemand frage, wo in Herschmettlen er denn aufgewachsen sei, dann werde er nicht mehr sagen, im Flarz Zollinger/Girschweiler gegenüber der Weinschenke, sondern ganz einfach: «Im Tokterhuus.»
Worin aber liegt die besondere Leistung Jakob Zollingers als Forscher? Die Laudatio an der Universität Irchel deutet einiges an: Er hat ein Leben lang seine Umgebung in der historischen Dimension erforscht: Das Entstehen der Drumlinlandschaft fasziniert schon den Knaben in Herschmettlen, ebenso wach ist sein Interesse für die Pflanzen und Tiere seiner Umgebung. Sein besonderes Augenmerk gilt den alten Wirtschaftsweisen, den Flurnamen, den Bauernhäusern und dem Leben darin. Jahrelang hat er Häuser besichtigt, aufgenommen, gezeichnet, dokumentiert und katalogisiert, zum Teil nebenberuflich, drei Mal auch während halb- oder ganzjähriger Urlaubsphasen vom Lehrerberuf. Als es dann aber gilt, sein Buch über das Zürcher Oberland abzuschliessen, gewähren ihm die Schulbehörden keinen weiteren Urlaub mehr, und andere müssen das Werk vollenden, das er von langer Hand und mit reichem Material vorbereitet hat.
Ein ganz und gar ungewöhnliches Kleinod ist seine Herschmettler Chronik. Darin hat er zwischen 1949 und 1964 – also im Alter von 18 bis 33 Jahren – die Entwicklung seines Heimatdorfes zuoberst im Glatttal in 19 handgeschriebenen, kleinformatigen Heften dokumentiert. Sie sind mit vielen Skizzen, Tabellen und Zeichnungen illustriert – wahrscheinlich ist Herschmettlen die besterforschte Kleinsiedlung weit und breit. Die Chronik enthält Informationen zur Geologie und Bodennutzung, zu Einwohnern, zur Wasserversorgung, zum Schulwesen und zu Kirchlichem. Neben Anekdoten aus dem Dorf wird darin auch der Dorfbrand von 1870 und seine Folgen geschildert. Jakob Zollinger hat seine Herschmettler Chronik mannigfach ausgewertet. So bezieht eine ganze Anzahl seiner gesamthaft 75 umfangreichen Beiträge im Heimatspiegel, der historisch-kulturellen Monatsbeilage des Zürcher Oberländers, ihren Stoff aus der Chronik. Die Vielfalt der Themen lässt sich an einigen der Titel ablesen: «Mannhafte Wächter im Blumengarten der Töchter – die Geschichte des Nachtheuelvereins Herschmettlen», «Ein Haus erzählt – zum Grossbrand vom 20.Juli 1996», «Kein Platz für Tante Emma – zur Schliessung des Dorfladens in Herschmettlen», «Grenzstreit am Gerbel – Sonnen- und Schattenseiten eines Oberländer Hügels», «Eine Oberländer Kleinsennerei – als es noch Fuchsrütlerkäse gab».
Eine eigene Qualität erhalten Zollingers Publikationen durch seine Illustrationen. Mit Recht wird in der Laudatio der Universität ihr besonderer Charme hervorgehoben, den sie dadurch erhalten, dass der Autor auch ihr Illustrator ist und sie so eigentliche Gesamtkunstwerke darstellen. Ob mit dem Bleistift, mit Farbstiften, Tuschefeder, Ölkreide oder Wasserfarben – Zollingers zeichnerisches Talent ist offensichtlich, seine Gabe des genauen Hinsehens ebenso. Und dann sind da seine berühmten Fragen. Schon im Jünglingsalter hat er einen Fragebogen mit 65 Fragen entwickelt, den er dann mit Dutzenden vorwiegend älteren Frauen und Männern aus seiner Umgebung systematisch durchgeht. Später wechselt er zu Tonbandinterviews mit betagten Gewährsleuten. Der Volkskundler Richard Weiss hat sich schon beim ersten Kontakt erstaunt über die innovative Forschungsmethode Zollingers gezeigt. Er sei ein früher Repräsentant des Forschungsgrundsatzes «Grabe, wo du stehst» und der Oral History, der Geschichte, die aus mündlichen Erzählungen geschrieben wird. «Zollinger betrieb Feldforschung, als die Studierten an der Uni noch mehrheitlich in Büchern blätterten» stand in einem Zollinger-Porträt im Tages-Anzeiger.
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