EINE NEUE «POLITISCHE KULTUR»
Die harmonische Koexistenz, Resultat der Befriedung und der wiedergefundenen Stabilität, zeigt während der Mediation eine politische Kultur, die sich im totalen Bruch mit derjenigen der Helvetischen Republik sehen will. Die Schlüsselwerte des neuen Regimes könnten auf dem politischen Aktionsfeld «parteilos» (sans-partisme) und «Ultra-Zentrismus» heissen, die eine wie die andere politische Haltung vor der Mediation noch suspekt und unter dem abwertenden Begriff des «Moderantismus» verpönt. Die neue politische Kultur, die mit ihrem speziellen Wortschatz und ihrer eigenen Grammatik versehen war, gründete auf einer Moral, die von drei Kardinaltugenden mit den Namen Mässigung, Unparteilichkeit und Weisheit beherrscht wurde. Sie waren expressis verbis in der Mediationsakte aufgezählt, 54was aus ihr einen eigentlichen Code der politischen Ethik machte, ein sehr seltener Fall in der Geschichte des Völkerrechts. Ein Grund mehr, sich damit näher zu befassen.
Wenn man unter dem Begriff «Moderantismus» Moderation oder Mässigung versteht, ist die offizielle Moral der Mediation paradoxerweise eine Kriegserklärung an die «passions politiques», an die glühende politische Leidenschaft: das Wort figuriert auch in der Akte von 1803, die ihren «Einfluss» 55öffentlich verurteilt. Streng genommen handelt es sich um einen heiligen Krieg, der zwar nicht so genannt sein will – wenn man mit den Soziologen darin übereinstimmt, dass jedes politische System, welches sich seiner Werte bewusst ist und sie zu propagieren trachtet, in einer mehr oder weniger offenen Art und Weise eine zivile Religion ist. Ist die Mediation eine eifrig-leidenschaftliche Anhängerin der Mässigung? Der «Parteigeist», als scharfe Form der Leidenschaft und als Gärstoff von heftigen politischen Kämpfen der Helvetik empfunden, wird auf die Anklagebank gesetzt. Seit der Mediationsakte «zwischen den Parteien, die die Schweiz teilen» sind alle Parteien aufgehoben. Der «Parteigeist» wird als Zerstörer des sozialen Zusammenlebens gebrandmarkt. 56Er ist seitdem aus dem politischen Savoir-vivre verbannt. Der gute Patriot ist eingeladen, ihn öffentlich zu denunzieren, der Präfekt und der Polizist, auf ihn Jagd zu machen.
Allerdings ging man nicht so weit, die Gerichte einzuschalten. Man begnügte sich mit der moralischen Verurteilung und zettelte keine politischen Prozesse an, denn die Mediationsakte verbot dies mit ihrer Amnestieklausel (Teil II, Art. XIII) ganz formell. Es gab deshalb während der Mediation keine Verurteilungen wegen «Vergehen in Bezug auf die Revolution». Die Frage hatte sich zwar gestellt. Die Amnestie verordnete also von Amtes wegen die nationale Versöhnung. Sie übte die erwartete Wirkung auf die Befriedung aus: Auf die Aktivseite der Mediation kann man das Fehlen von jeglichem politischem Mord, Putsch oder Putschversuch setzen. Zwar wurde das neue Regime gleich zu Beginn von einem schweren Volksaufstand getroffen, dem einzigen, dem berüchtigten Bockenkrieg. Die Strenge, mit der er unterdrückt wurde, widerspiegelt die Verhärtung des Strafrechts gegenüber jenem der Helvetik – Wiedereinführung der Folter und der Todesstrafe –, sagt aber noch mehr aus, wie wir gleich sehen.
Die öffentliche Volksstimmung – zu unterscheiden von der öffentlichen Meinung, die keine moralische Verbindung kennt 57–, basiert primär auf dem Respekt vor der Autorität, deren Prinzip immer wieder von Staat und Kirche, die sich dabei gegenseitig unterstützen, überall bekräftigt wird. In der staatsbürgerlichen Gesinnung (civisme) der Mediation hatte der Respekt vor der Autorität Vorrang vor dem kritischen Geist. Die Vorherrschaft des Autoritätsprinzips trachtete danach, die Legitimität der legal errichteten Macht zu verklären und das Vergehen wegen Ungehorsams schärfer zu gewichten. Das ist deshalb so wichtig, weil das Strafrecht sich von der Mediationsakte beeinflussen liess, die ausdrücklich den Straftatbestand der kollektiven Revolte vorsah. 58Da es kein eidgenössisches Strafrecht gab, diente in diesem Punkt die Mediationsakte den 19 Kantonen als gemeinsame Grundlage.
Kann die öffentliche Volksstimmung, durchtränkt von Mässigung und Respekt vor der Autorität, das militante Verhalten in der Politik anheizen? Wenn ja, wäre das nicht heimtückischerweise eine schleichende Militanz eines einheitlichen ideologischen Gedankenbreis, eine breite Neutralisationskampagne des Geistes und eine Ermutigung zur Selbstzensur? Die «weisen Denker und Freunde des Guten», um nochmals die Akte von 1803 anzuführen, hatten nur ein einziges Ziel: «die Befriedung und das Glück der Schweizer». 59Das war ihr Glaubensbekenntnis, eine milde Ausdrucksweise, um eine schöne Sache zu verteidigen, aber ohne öffentliche Debatte in den Parteien oder in den Zeitungen. Die Presse war streng überwacht, und ein Pluralismus der Meinungen konnte sich nicht entfalten. Die Wahlen liefen ohne Wahlkampf ab. Das politische Engagement hiess: «allgemeine Sammlung im Zentrum», das famose «juste-milieu», Treffpunkt der biederen Bürger, der «honnêtes gens». Diese mieden die «Grossmäuler» (»exagérés»), die «Prinzipienreiter» (»principiers»), «Anarchisten» und andere «Jakobiner», alles Parteien, die noch 1802 behaupteten, das Gesetz zu diktieren, und deren Sektiererei, wie man sagte, das Land in die Anarchie und den Ruin 60getrieben hatte.
Man muss eingestehen, dass der Ultrazentrismus, die beherrschende und gewissermassen geradezu offizielle Ideologie, das politische Leben 61betäubte. Von heute aus gesehen führt diese Situation unvermeidlich zu der Frage: Wie stand es mit der Demokratie in einem solchen Klima? Dieses Wort kam nirgendwo vor: Presse, offizielle Ansprachen und Gesetzestexte kannten es nicht. Man findet es auch in der Mediationsakte nicht, welche die 19 kantonalen (nicht vorhandenen) Verfassungen vertritt. Ist diese Feststellung ein bedrückendes Zeugnis für das Regime? Rechtlich gesehen existierte die repräsentative Demokratie, aber mit Einschränkungen: keine Gewaltentrennung, ein stark einschränkendes Zensuswahlsystem, welches die Herrschaft der Reichen favorisierte, und beschränkte Redefreiheit. Umgekehrt waren die persönlichen sowie die Klassenprivilegien offiziell aufgehoben, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit aber garantiert. Bilanz des Inventars: Das verfassungsmässige System, welches durch die Mediationsakte eingeführt wurde, war mehr liberal als demokratisch.
Jedes politische System wird auch und vielleicht vor allem durch die Geistesverfassung bestimmt, die es beseelt. Dasjenige der Mediation war von der Ablehnung jeglicher Unordnung und Anarchie geprägt. Die nationale Versöhnung und der Geist der Eintracht – das Gegenteil von Parteiengeist – zwangen zum Vergessen der «Helvetik», die aus Frankreich importiert wurde, aus dem gleichen Frankreich, das durch die Stimme seines neuen Herrn die Nutzlosigkeit der Helvetik anerkannt hatte. In den Augen der damaligen eidgenössischen Führungsschicht musste man jetzt das Blatt wenden, auf einer neuen Grundlage wieder anfangen und in die Zukunft blicken.
WIRTSCHAFTLICHE ERHOLUNG MIT LANDWIRTSCHAFTLICHER HEGEMONIE
Im Frieden mit sich selbst und auf dem internationalen Parkett offiziell neutral, gelingt es der Schweiz in der sogenannten Grossen Mediation, mit einem zentralen politischen Apparat, der auf die einfachste Form reduziert wurde – ein weiterer Zug von Grösse –, sich wirtschaftlich zu erholen. Auch hier gibt die Mediation, die vom wiedergefundenen Frieden profitiert, nach der endgültigen Ablösung von der Helvetischen Republik den Anstoss dazu. Freiheit von Handel und Industrie, deren Idee 1798 proklamiert wurde, wird 1803 aufrechterhalten. Auch die Binnenzölle, die schon von der Helvetik abgeschafft wurden, werden bei der Wiedererrichtung der kantonalen Grenzen nicht mehr eingeführt. Diese zwei Grundbedingungen schaffen einen gemeinsamen eidgenössischen Markt, der Austausch und Konkurrenz, Privatinitiative und Unternehmungsgeist anregt. Wenn wir noch berücksichtigen, dass die öffentliche Gewalt sich in die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht einmischt, so versteht man die Bourgeoisie, die sich dafür einsetzt, wie ein sich gewählt ausdrückender Historiker richtigerweise geschrieben hat, dass «der Profit nicht auf sich warten lässt». 62Dieser Profit fliesst ebenfalls und sogar hauptsächlich aus den Exporten, wobei Europa der erste Kunde der Schweizer Produkte ist. Darum kann man sagen, dass «weniger Staat» diesen ersten Boom der schweizerischen Wirtschaft ermöglicht hat und es nur noch ein kleiner Schritt ist bis zur Ideologie des «laisser faire, laisser passer».
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