Was von Zschokke als grundsätzliche Erforschung der Ästhetik angelegt war, wurde ihm unter seinen Händen zu einer pädagogischen und moralphilosophischen Abhandlung, in deren einem Brennpunkt der «edle Künstler» stand mit seinem Bemühen, das Schöne darzustellen und vollkommene Kunstwerke zu schaffen. Nicht dass er dies erreichte, aber er sollte mindestens danach streben. Dies bezeichnete Zschokke als ästhetischen Imperativ, 208in Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ, den er aber nicht näher ausführte.
Der zweite Brennpunkt in dieser Ästhetik ist das Volk, auf welches die Kunst einwirkt. Es besitze ein Bedürfnis nach schönen Empfindungen, also Kunst, gleichgültig, wie roh oder verfeinert sein Kunstgeschmack sei. Es könne ein gutes und ein schlechtes Kunstwerk unterscheiden, indem das erste ihm gefalle und angenehme Empfindungen auslöse, das zweite nicht. «Das Schöne ist mit einem nothwendigen Wohlgefallen verknüpft.» 209Gefallen könne dem Menschen nur, was drei Kriterien erfülle: seine Sinne anspreche, seine Vernunft nicht beleidige und seine Sittlichkeit nicht verletze. 210
Zwar muss Zschokke einräumen, dass auch das Unvernünftige und Unsittliche gefalle, aber nur bei von ihren Affekten gesteuerten Menschen, welche die Vernunft oder die Moral ausser Kraft gesetzt hätten. Ihr Wohlbehagen gegenüber einem unsittlichen Gemälde oder Buch, das «dem Tugendhaften, dem Vernünftigen» nicht gefallen könne, 211sei von Leidenschaft getrübt. 212Auch Künstler, die so etwas schufen, ohne auf einen höheren Zweck abzuzielen, seien unfrei. « Freiheit bezieht sich auf Vernunftüberlegung, [...] auf Gehorsam gegen die Gesetze der Vernunft, in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauche.» 213
Man kann aus diesen Ausführungen nicht schliessen, Zschokke habe seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik» als Moralapostel und Sittenwächter verfasst. Ebenso verhängnisvoll, wie die sittliche oder erkennende Natur der Menschen zu missachten, sei es, die Sinnlichkeit zu vernachlässigen. «Die Sinnlichkeit leihet der theoretischen und praktischen Vernunft Empfindungen.» 214Und: «Das für den Verstand regelmäßigste, für die sittliche Vernunft beste Werk ist nicht schön, sobald es an sich den Forderungen der Sinnlichkeit widerstrebt.» 215
Zschokke stellte Prinzipien dar, ohne den Blick für Realitäten zu verlieren. Die Welt war nicht vollkommen, nicht jeder Künstler edel, kein Mensch frei von Leidenschaft. So war das Leben, und Zschokke hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, er selber sei als Dichter nur an der sittlichen Bildung der Leser interessiert. An seinem Wunsch nach einem «thebanischen Gesetz», das darauf achte, dass in der Kunst nur «das Schöne und Anständige dargestellt werde», 216ist abzulesen, wie ernst es ihm um diese Forderung für die Zukunft war. Über die Einhaltung dieses Gesetzes sollte aber nicht die Polizei, sondern «Kunstrichter und Kenner» wachen.
In der neusten Literatur zur Geschichte der Ästhetik wird Zschokkes Buch gewürdigt, und es wird bedauert, dass es so rasch in Vergessenheit geriet, da es durch «die Identifizierung des Ästhetischen mit der Subjektivität des Fühlens» einen «durchaus originellen Ansatz» biete und mit dem ausdrücklichen Anspruch der Gründung einer psychologischen Ästhetik verbinde. 217
Entscheidender als die kunsttheoretische Originalität Zschokkes oder seine etwas eigenartige Terminologie 218sind für den Biografen seine Ausführungen über die menschliche Natur. Die Triebkräfte seien bei allen Menschen gleich gestaltet. Niemand, weder Fürst, Priester, Adliger noch Gelehrter oder Künstler könne sich von dem ausnehmen, was auch für den einfachsten Bauern und Taglöhner gelte: dass er in sich einen Drang nach Freiheit im Denken und Handeln, nach Ehre, Freundschaft, Liebe, Reichtum und Menschlichkeit besitze, 219den Wunsch nach Schönem und Vollkommenem, der sich genauso Geltung verschaffen wolle wie der ebenfalls ubiquitäre Geschlechts- oder Lebenserhaltungstrieb. 220
Zschokke hatte ein allgemeines Prinzip zur Bildung des Menschen gefunden, das von seiner Natur ausging und insofern die schönen Künste berührte, weil der «edle Künstler» auf das Gemüt, «das Empfindungsvermögen vermittelst der Vorstellungen und Gefühle» einwirke, was für die Erziehung des Menschengeschlechts viel bedeutungsvoller sei, als was der Philosoph leisten könne, der «allein für Verstand und Vernunft, der Moralist für die praktische Vernunft, und der niedrige Künstler für die Sinnlichkeit allein arbeitet». 221Schiller habe beispielhaft gezeigt, wie der Künstler die Menschen durch das Theater rühren und verbessern könne:
«Durch die Gewalt des Kontrastes [...] in seinen Trauerspielen hebt er Vorstellungen und Empfindungen in uns zu einem hohen Grad der Lebhaftigkeit, wodurch der sympathetische Trieb rege wird. Nun zittern und schaudern wir mit seinen Helden vor der anrückenden Gefahr, wir weinen, oder fühlen uns kühn und stolz und athmen Rache, nach seinem Geheis.» 222
Zschokke hätte sein Buch auch «Ideen zur ästhetischen Erziehung» nennen können, selbst wenn ihm noch nicht bewusst war, dass die pädagogische Seite ihn einmal stärker beschäftigen würde als die Theorie der Kunst oder die Lehre von den Empfindungen. Er schickte sein Werk Schiller, mit der Bitte um ein Urteil und die Erlaubnis, seine Ideen in der Zeitschrift «Thalia» näher erläutern zu dürfen. 223Den Brief verband er mit der Bezeugung seiner grossen Verehrung für den Dichter; er endete mit dem Satz: «Ihrer gütigen Antwort entgegenharrend, bleib ich bis an mein Grab mit ungeschminkter Hochachtung Ihr Verehrer M. Heinr. Zschokke.» 224Auch dieser Brief, wie der frühere an Wieland, blieb unbeantwortet. Stattdessen veröffentlichte Schiller in den «Horen» seine gleichzeitig mit Zschokkes entstandenen Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen». 225Beide beziehen sich auf Kant, und beide versuchen, der Gefahr der politischen Anarchie ein Bollwerk der moralischen und ästhetischen Veredelung des Volks entgegenzusetzen. 226Zschokke hoffte, dass sein Buch für akademische Vorlesungen Verwendung fände 227und wollte es seiner eigenen Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1794/95 zugrunde legen; es kam aber nicht mehr dazu.
DICHTER UND PUBLIZIST IN DER FRANKFURTER ZEIT
Zschokkes fünf Jahre in Frankfurt waren reich an literarischem und publizistischem Schaffen. Es entstanden fünf teils mehrbändige Romane (und ein Romanfragment), vier Dramen, drei Bände mit Aufsätzen und Erzählungen, zwei eigenständige Zeitschriften und verstreute Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften, die hier nur im Überblick dargestellt werden können.
Am 5. Januar 1793 erschien das erste Stück von Zschokkes Wochenzeitschrift «Frankfurter Ephemeriden für deutsche Weltbürger» bei Christian Ludwig Friedrich Apitz. 228Es war sein erstes selbständiges, nach eigenem Konzept entworfenes und realisiertes Periodikum, ein Einmannunternehmen mit dem Anspruch, zu unterhalten und gleichzeitig zu nützen, letzteres durch Aufklärung und Bekämpfung des Aberglaubens. 229Die eigentliche Ankündigung, die im Dezember 1792 in Frankfurt (Oder) und über Buchhändler und Postämter in weiteren Städten von Braunschweig bis Breslau und Schwerin bis Magdeburg verteilt wurde, ist nicht mehr greifbar. Eine Liste der Abonnenten wurde nach Abschluss des ersten Semesters der Zeitschrift beigelegt und gibt uns wertvolle Aufschlüsse über die soziale und geografische Streuung der Leser. 230Sie hatte 450 Subskribenten oder Pränumeranden gewonnen, eine stattliche Zahl für eine neue und noch unbekannte Publikation.
Anstelle einer Vorrede lässt Zschokke eine fiktive Kaffeegesellschaft in einem Provinzstädtchen über die neue Zeitschrift diskutieren:
«‹Wir haben seit vielen Jahren kein Wochenblatt gehabt;› sagte der dikke Herr Amtmann, und sezte seine Tasse hin: ‹ich wills doch mithalten; es pflegt unterweilen schnurriges Zeug darin zu stehen, darüber man sich krank lachen mögte. Zum Beispiel so recht trollige Anekdötchen; Sie wissen ia wohl, Frau Gevatterin, wie wir neulich lasen! he, he, he!›
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