Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau
EINLEITUNG
Die Bedeutung des Seminars Reichenau aus heutiger Sicht
Die Herrschaft Reichenau und ihr Schloss
Quellenlage und Literatur
GESCHICHTE DER HERRSCHAFT UND DES SCHLOSSES REICHENAU
Das Schloss Reichenau im Lauf der Jahrhunderte
Akteure beim Kauf der Herrschaft Reichenau
Einteilung der Aufgaben unter den Eigentümern
Inventur
DAS SEMINAR REICHENAU
Tscharner, die Gründerpersönlichkeit
Vorläufer des Seminars
Der Pädagoge Nesemann und das Seminar Haldenstein
Vorkehrungen für die Aufnahme des Schulbetriebs in Reichenau
Zurückhaltende Propaganda
Eröffnung ohne Pomp
Lehrer und Schüler
Ein geheimnisvoller Fremder
Schüleralltag
SCHLECHTE ZEITEN FÜR EINE SCHULE
Pädagogik in Kriegszeiten
Spielerischer Unterricht
Eine Schulgründung nach der Französischen Revolution
Probleme im Seminar Reichenau
Vorläufige Schliessung des Schulbetriebs
Idee einer Landesschule
DER NEUBEGINN VON 1795
Umbruchphase
Sommerreise ins Engadin
Intervention des Fürstbischofs
Austausch der Lehrer
Reichenau und der Stäfner Handel
Zögerliche Eltern
Der Basler Unternehmer Johann Lukas Legrand
ERZIEHUNG ZUM BÜRGER
Pädagogische Pläne
Traum einer nationalen Erziehung
Geschichtsunterricht und politische Bildung
Ein Kranz von Fächern
Selbstauferlegte Disziplin
EIN NEUER DIREKTOR
Das Jahr 1796
Heinrich Zschokke
Neuerungen im Seminar
Das Schülertribunal
Tätigkeit des Sittengerichts
Zschokke wird hingehalten
Übernahme des Seminars
DIE BEIDEN LETZTEN JAHRE
Aufblühen des Seminars
Zschokke richtet sich ein
Geselligkeit in Reichenau
Projekt eines theologischen Instituts
Lehrmittel für Schulen
Die drei ewigen Bünde im hohen Rätien
SCHLIESSUNG DES SEMINARS
Ökonomische Sorgen
Politische Ereignisse
Liquidation
Auf der Flucht
EPILOG
Zukunft der Herrschaft Reichenau
Tscharners Träumereien
ANHANG
Einleitung
DIE BEDEUTUNG DES SEMINARS REICHENAU AUS HEUTIGER SICHT
Vor 250 Jahren richteten sich die Augen vieler gebildeter, fortschrittlich gesinnter Eidgenossen auf den kleinen Freistaat Gemeiner Drei Bünde an der südöstlichen Grenze der Eidgenossenschaft, genauer nach Haldenstein, wo ein Wunsch in Erfüllung zu gehen schien, den die Helvetische Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahr 1762 gehegt hatte: die Förderung des Bürgersinns unter jungen Schweizern. Vielen Mitgliedern dieses patriotischen Vereins war bewusst, dass das künftige Staatswohl in der Hand der Jugend lag, dass diese Jugend aber zuerst selber staatsmännisch erzogen werden musste, bevor sie die Schweiz im Sinne der Reformer umgestalten konnte.
Die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte blickte auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück, die bei jeder Gelegenheit aufs Neue beschworen wurde, aber sie war innerlich erstarrt und zu keiner grundlegenden politischen Veränderung mehr fähig. Zerrissen im Kampf rivalisierender Kräfte und Konfessionen wachten Altgesinnte und Ewiggestrige darüber, dass kein Neuerer die bewährte Politik und ihre Institutionen kritisierte oder die Vormachtstellung herrschender Familien angriff. Die Verfolgung und Bestrafung solcher Ruhestörer blockierte während des 18. Jahrhunderts dringend notwendige Veränderungen und hätte beinahe die Helvetische Gesellschaft in den Abgrund gerissen, die an ihren jährlichen Tagungen in Schinznach Bad das Bild einer erneuerten Schweiz entwarf.
Überraschend trat im Mai 1766 der Bündner Pfarrer Martin Planta vor die Versammlung und schilderte ein Experiment im Schloss Haldenstein, das weitherum seinesgleichen suchte. Die Mitglieder und Gäste lauschten gebannt seinen Ausführungen zu einer Privatschule, in der Bürgertugenden, Gemeinschaftsgeist und Gerechtigkeitssinn gelehrt und praktisch geübt wurden. Nicht zufällig konnte eine solche Schule gerade in Bünden entstehen, wo die (männliche) Jugend von alters her, im Elternhaus, bei dörflichen Veranstaltungen und in Knabenschaften, ans Politisieren gewöhnt war. Im Seminar Haldenstein erhielten die Schüler politische Aufgaben und Führungsfunktionen übertragen, die man der antiken römischen Republik entnahm. Die Wahl in diese Ämter erfolgte auf demokratischem Wege, und die Inaugurations- und Abtrittsreden wurden, wie es in Bünden Brauch war, ebenfalls von den Amtsträgern gehalten. Zahlreiche Staatsmänner erhielten hier ihr Rüstzeug für ihre politische Laufbahn. Wenige Jahre darauf starb Martin Planta; das Seminar zog ins Schloss Marschlins und wurde nach dem Willen des Schlossherrn Ulysses von Salis-Marschlins auf die philanthropischen Ideen Joachim Basedows ausgerichtet, eines damals viel beachteten deutschen Pädagogen, geriet bald ins Trudeln und stürzte 1776 ganz ab.
Nach der Französischen Revolution, in einer politisch hochbrisanten Zeit, wurde in Reichenau die Schule wieder eröffnet, interkonfessionell, vielsprachig und mit Schülern aus dem In- und Ausland. Man erteilte Unterricht in modernen Sprachen, theoretischen und praktischen Fächern, erzog ganzheitlich, zu Toleranz und demokratischem Verhalten und erklärte sich zur Schülerrepublik.
Der Politiker Johann Baptista von Tscharner, Gründer und Kurator des Seminars Reichenau, verpflichtete Johann Peter Nesemann, einen der beiden ehemaligen Direktoren von Haldenstein, zum Schulleiter und richtete die Ausbildung auf künftige Gutsbesitzer, Kaufleute, Politiker und Akademiker aus. Er hoffte, mit dem Schulinternat einflussreichen Bündner Familien eine Alternative zu den damals üblichen Privatlehrern zu bieten. Leider fand auch das Seminar Reichenau nach einigen Jahren ein Ende, als der Zweite Koalitionskrieg der europäischen Grossmächte über die Schweiz und Bünden hereinbrach und die Bevölkerung in zwei feindliche Lager spaltete.
Wenn ich mir nur vorgenommen hätte, eine Studie zum Seminar Reichenau zu schreiben, würde das eine Publikation dieses Umfangs kaum rechtfertigen. Erstens ist es aber mein Anliegen, auch die Vorgänger des Seminars in Haldenstein, Marschlins und Jenins vorzustellen und pädagogikgeschichtlich zu verorten, zweitens möchte ich die politische Geschichte und die Kulturgeschichte Graubündens jener Zeit darstellen und drittens die besondere Situation Reichenaus in historischer, politischer, verkehrstechnischer und ökonomischer Hinsicht aufzeigen. Das Schloss Reichenau stand durch seine Position immer wieder im Brennpunkt politischer Ereignisse und spielte zugleich eine wichtige Rolle im Transportwesen und Handel über die Bündner Pässe.
Johann Baptista von Tscharner – Initiator des Seminars, Miteigentümer der Herrschaft und des Schlosses – machte immer wieder Pläne für Reichenau: Bald sah er es als eine eigenständige Republik, einen Idealstaat, bald als ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum mit Fabriken, Werkstätten und Künsten, ein anderes Mal erträumte er sich Reichenau als Hafenstadt an einer europäischen Wasserstrasse, die von der Nordsee bis nach Italien reichte. Im Tscharner-Archiv, das sich im Staatsarchiv des Kantons Graubünden befindet, schlummert eine Fülle von Material mit allerlei Notizen, Entwürfen und Träumen Tscharners, das nach verschiedenen Richtungen zu durchschiffen und zu durchkreuzen sich lohnt.
DIE HERRSCHAFT REICHENAU UND IHR SCHLOSS
Für unser Thema von Bedeutung ist die Lage von Reichenau am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins, am Kreuzungspunkt der Transitwege von Uri über den Oberalppass und von Italien über den San Bernardino- und Splügenpass nordwärts. In Reichenau war es seit dem Mittelalter möglich, auf zwei soliden Brücken die beiden Rheine zu überqueren und Güter und Menschen auf der Strasse nach Chur oder mit Holzflössen bis zum Bodensee zu transportieren. Dadurch wurde Reichenau zu einem bedeutenden Handels-, Zoll- und Warenumschlagsplatz mit Gast- und Zollhaus, Schreibstube, einem Laden, Metzger, Bäcker und Handwerksbetrieben, wo man das Notwendige für eine Reise einkaufen, herrichten und reparieren lassen konnte. Die Gewerbebetriebe waren, anders als in Chur, keinem Zunftzwang unterworfen, was eine grössere Flexibilität bei der Ansiedlung erlaubte, soweit nicht Rechte der umliegenden Gemeinden Tamins und Bonaduz sie einschränkten.
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