Hinter dem Begriff «Stammlande» verbarg sich die politische Strategie der im Bürgerkrieg geschlagenen und von den Posten des Bundesstaats weitgehend ausgeschlossenen Sonderbündler, ihre regionale Identität im Bundesstaat zu erhalten. In der national-liberalen Geschichtsschreibung wurde dieses Stammland-Konzept zu lang als hinterwäldlerischer und rückwärtsgewandter Hyperföderalismus gedeutet.
Als Diasporakatholizismus bezeichnete man die Glaubens- und Lebenswelt der Katholiken ausserhalb der Stammlande. Wie der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof schreibt, nimmt der aus dem Griechischen stammende Begriff «Diaspora» auf die zahlenmässigen Konfessionsverhältnisse Bezug und steht für «jede unter einer andersgläubigen Mehrheit lebende religiöse Minderheit». 5In der Terminologie der katholisch-konservativen Eliten bezog sich allerdings Diaspora nicht in erster Linie auf die zahlenmässige Stärke des katholischen Volksteils, sondern auf die Stellung des parteipolitischen Katholizismus in den Kantonen. Wichtiger als die konfessionelle Minderheitensituation war die Tatsache, dass die Katholisch-Konservativen ausserhalb der Stammlande in keinem Kanton eine stabile Regierungsmehrheit besassen und als Minderheitspartei Oppositionspolitik betreiben mussten.
Neben den klassischen Diasporakatholizismen in den ursprünglich protestantischen Kantonen Zürich, Bern (mit dem 1815 dazu gekommenen katholischen Nordjura und dem Laufental), Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Waadt, Neuenburg und Genf (mit den 1815 zugeteilten katholischen Gemeinden) zählten auch die Katholizismen der konfessionell gemischten (d. h. paritätischen) Kantone Glarus, Graubünden, Aargau, Thurgau und St. Gallen sowie die ursprünglich katholischen Nicht-Sonderbundskantone Tessin und Solothurn (mit dem reformierten Bucheggberg) dazu. Je nach ihrer zahlenmässigen Stärke waren hier die Katholisch-Konservativen als Minderheit in der Regierung vertreten oder standen völlig ausserhalb der kantonalen Regierung.
Mit der Industrialisierungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Innerschweizer, Freiburger und Walliser als erste Migranten in die industrialisierten Zentren des Mittellandes aus. Sie waren für die protestantischen Einheimischen «Fremde», was in der Geschichtsschreibung lange übersehen worden ist. Die dem politischen Katholizismus verbundenen Einwanderer bauten in der Diaspora katholische Vereine und Parteien auf, die einen sozialreformerischen, das heisst christlichsozialen Kurs einschlugen. Im Unterschied dazu konnten sich die Parteien in den Stammlanden auf eine gewerblich-agrarische Wählerbasis mit einer ausgeprägt bürgerlich-konservativen Elite stützen.
Diese unterschiedlichen Strukturen hatten zur Folge, dass in der Landespartei zwei Katholizismen mit unterschiedlichen Zielen und Strategien entstanden. Als Bindemittel wirkte die katholische Konfession, die den weltanschaulichen Zusammenhalt vermittelte, der die soziökonomischen und kulturellen Gegensätze zu überwinden half. Dabei entwickelten die Vorgängerparteien der CVP spezielle neokorporativistische Ausgleichsmechanismen, die die Eliten steuerten, um die Einheit der Landespartei zu erhalten.
Vom Ende der hundertjährigen Alleinherrschaft in den konservativen Stammlanden
In der konkreten Politik waren die im Bürgerkrieg unterlegenen Katholisch-Konservativen nach 1848 bestrebt, die von der Siegerpartei aufgezwungenen radikal-liberalen Regimes so rasch als möglich abzulösen. Traumatisiert durch den Bürgerkrieg und die Willkür der freisinnigen Bundesgewalt, verbanden sich katholische Konfession und Regionalismus zu einer Allianz, die die Machtstellung der Katholisch-Konservativen im Zeichen eines gegen Bundes-Bern gerichteten Affekts über mehr als ein Jahrhundert am Leben erhielt.
Mit Hilfe der katholischen Kirche gelang es so der katholisch-konservativen Bewegung, die Herrschaft in den Landsgemeindekantonen Uri, Schwyz und Ob- und Nidwalden in kürzester Zeit zurückzugewinnen. Berühmt geworden ist der Fall des liberalen Nidwaldner Nationalrats Johann Melchior Joller, der nach inszenierten Spukgeschichten in seinem Stanser Haus aus seiner Heimat emigrierte und in die päpstliche Armee in Rom eintrat. 6In Freiburg erfolgte der Umschwung 1856 und im Kanton Luzern im Jahr 1871.
Als die neue Bundesverfassung 1874 in Kraft trat, waren die Regierungen aller Sonderbundskantone wieder in den Händen der katholisch-konservativen Partei, die ihre Kantone zu Bollwerken im Bundesstaat ausbauten, in denen sich die katholisch-konservativen Kräfte zurückziehen und sich regenerieren konnten. Die Erfolge hatten ihre Kehrseite und förderten den defensiven Réduitgeist, der sich nicht nur gegen Zentralisierungen des Bundesstaats wandte, sondern aus Angst vor zentralistischen Organisationen sogar die Gründung einer eigenen Landespartei hemmte.
Erst die kulturelle Integration der Katholiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschütterte die katholisch-konservativen Hegemoniestellungen. In den 1990er-Jahren gelang der SVP der Einbruch in die Stammlande, indem die Nationalkonservativen die in Jahrzehnten gewachsene Abwehrhaltung gegen jedwelche Zentralisierung in einen Protest gegen das Europa Brüssels umfunktionierten und im kollektiven Gedächtnis an den Kampf der Alten Eidgenossen gegen fremde Vögte appellierten. Damit lockte die SVP Teile der Katholisch-Konservativen, die durch das Bindemittel des katholischen Milieus nicht mehr genügend zusammengehalten wurden, in die nationalkonservative Partei.
Mit Verspätung auf die Mittelland-Schweiz entfaltete die Moderne auch in den katholisch-konservativen Stammlanden ihre Erosionskräfte. 7In Freiburg büsste die Partei 1966 im Grossen Rat und 1981 in der Regierung die absolute Mehrheit ein, und 1982 folgte als erster Innerschweizer Kanton das wirtschaftlich aufstrebende Zug. Um die Mitte der 1980er-Jahre besassen die Christlichdemokraten noch in den Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Wallis und Appenzell Innerrhoden die absolute Mehrheit.
Doch schon 1987 verlor die Luzerner CVP die Mehrheit im Kantonsparlament, während sie diese in der Regierung bis 2005 halten konnte. Ende der 90er-Jahre brachte der SVP-Aufstieg auch die Parteienlandschaft in der Urschweiz durcheinander. In Schwyz verlor die CVP 1988 die Mehrheit im kantonalen Parlament, 2004 in der Regierung.
Diesen Verlusten in den Kantonsregierungen gingen Rückschläge bei den doppelten Ständeratsvertretungen voraus. 8Den Anfang machte der Kanton Luzern mit der Wahl des freisinnigen Christian Clavadetscher im Jahr 1955. Das war eine Zäsur, denn bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts hatte die CVP in den ehemaligen Sonderbundskantonen alle vierzehn Ständeratsmandate inne, eine Regel, von der es temporäre Ausnahmen gab. Gerade weil die CVP in den Stammlanden über hundert Jahre stabile Hochburgen besass, stellte der Verlust der Doppelmandate in der Kleinen Kammer ein Alarmzeichen dar, das als Fanal für das Ende einer Ära gedeutet werden konnte.
1971 büssten die Christlichdemokraten einen Ständeratssitz in Zug ein, 1979 in Freiburg und 1991 in Schwyz. 1998 verloren sie in Obwalden das einzige Ständeratsmandat. Der Tiefpunkt war erreicht, als die Christlichdemokraten 2011 wegen innerparteilicher Streitigkeiten den einzigen ihnen verbliebenen Ständeratssitz im Kanton Schwyz an die SVP abgeben mussten. Zum ersten Mal seit 1848 stellt die CVP Schwyz keinen Ständerat. Der Kanton Wallis ist der letzte Kanton, in welchem die Christlichdemokraten mit ihren beiden Flügeln 2011 die zwei Ständeratssitze halten konnten. Nur dank der kleinen Urschweizer Kantone konnte die CVP 2011 im Ständerat ihre relative Stärke von 13 Sitzen aufrechterhalten.
Nachhaltiger Aufstieg der Christlichsozialen in den paritätischen und Diasporakantonen
Die 1880er-Jahre bildeten eine «Sattelzeit», die die Gesellschaft und damit auch die Politiklandschaft von Grund auf veränderte. Die Binnenwanderung und der Ausbau der Volksrechte zeitigten Rückwirkungen auf das Parteiwesen. So hatten die ansteigenden Katholikenzahlen ausserhalb der Stammlande neue Parteigründungen zur Folge; und es waren die sogenannten Diasporakatholiken, die um 1900 mit Vehemenz eine Landespartei forderten.
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