Wie in den Kulturkampfkantonen war primär die national-konservative SVP Nutzniesserin dieser Entwicklung. 1991 hatte die SVP in den Zentralschweizer Kantonen sowie in Freiburg und im Wallis insgesamt lediglich einen Nationalratssitz inne. 1995 waren es zwei und 1999 bereits deren vier. Bei den Nationalratswahlen vom Herbst 2003 steigerte sich die SVP mit insgesamt acht Mitgliedern und 2007 mit neun. Im Jahr 2011 verlor sie zwei Sitze, was auf eine gewisse Instabilität der Wählerbasis hinweist. Dennoch: Die Wählerverluste in den alten Stammlanden alarmierten die Eliten. Am besten hielt sich die CVP des stark urbanisierten Kantons Luzern, in Zug errang sie immerhin einen von drei Sitzen.
Herbe Verluste in der Kleinen Kammer
Im Ständerat konnte die CVP jahrzehntelang von der Tatsache profitieren, dass die kleinen Stammlandkantone ebenfalls zwei Senatoren entsenden wie die Grosskantone Zürich, Bern und Waadt. Deshalb blieb der Ständerat bis heute eine stark christlichdemokratisch gefärbte Kammer.
Doch der Rückgang in ihren Stammlanden zeigte sich auch bei den Ständeratswahlen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stellte die Partei in den ehemaligen Sonderbundskantonen alle vierzehn Ständeratsmandate. 16Da zwei der acht Sonderbundskantone Halbkantone sind, die jeweils lediglich einen Ständerat stellen, beläuft sich die Sitzzahl dieser acht Kantone im Ständerat auf insgesamt vierzehn.
Das erste Doppelmandat ging der CVP schon 1955 in Luzern verloren. Seit den 70er-Jahren büsste die CVP in den Urschweizer Kantonen immer wieder Ständeratssitze ein, 2011 sogar beide in Schwyz.
Ähnliche Verluste verzeichnete die Partei in anderen Kantonen. So verlor die CVP 1995 ihren Ständeratssitz im Aargau und 2011 in St. Gallen. Ausserhalb der Sonderbundskantone errang die Partei 2011 nur noch in folgenden Kantonen Ständeratssitze: Appenzell Innerhoden, Graubünden, Jura, Solothurn, Thurgau und Tessin. Seit den 1970er-Jahren ist der Abwärtstrend auch in der Kleinen Kammer eindeutig, auch wenn die CVP derzeit immer noch die stärkste Gruppe stellt.
Verschwinden der katholischen Meinungspresse
Wie lässt sich das Schrumpfen der Wählerbasis der CVP um über einen Drittel im Zeitraum von 1983 bis 2011 erklären? Diese Frage versuche ich mit einigen Thesen zu beantworten, die sich zum Teil an die Wahlstudien des Bundesamts für Statistik (BFS), der Swiss Electoral Studies (Selects-FORS), des GfS-Forschungsinstituts und anderer anlehnen und diese mit Bezug auf die CVP ergänzen. 17
Zunächst ist festzuhalten, dass politische Ereignisse die Wahlen beeinflussen, die von der Wahlforschung zuweilen erst im Nachhinein gewürdigt werden. Die berühmte Abstimmung von 1992 über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) war eine solche Zäsur, die dem Aufstieg der SVP das entscheidende Momentum gab. Die superpatriotischen Europa-Skeptiker liefen der CVP scharenweise davon. Der populistische Protest der SVP gegen das Berner Politestablishment sprach vielen Unzufriedenen in den alpinen und ländlichen Randgebieten aus der Seele. 1992 war das politische «Marignano» der CVP, die in der Europafrage zwischen Progressiven und Konservativen tief gespalten war. Im Wahlkampf von 1995 ging die bisher einigermassen funktionierende bürgerliche Allianz zwischen FDP, CVP und SVP in die Brüche. 18
Ein zweites Argument: Der steigende Wohlstand der Konsum- und Freizeitgesellschaft, der seit den 50er-Jahren unaufhaltsam voranschritt, erhöhte nicht nur die soziale, sondern auch die geistige Mobilität der Schweizerinnen und Schweizer, die unter dem Einfluss von Radio und Fernsehen und von Forumszeitungen ihre Denk- und Lebensweisen einander anpassten. Als Folge lösten sich die traditionellen Parteibindungen auf. Das Prinzip der Konsumgesellschaft hielt auch in der Politik Einzug. Die Parteien wurden zu Warenhäusern, in denen man sich nach Gutdünken bediente. Als Konsequenz wurden die Wähler und Wählerinnen beweglicher, mobiler und stimmungsabhängiger; sie wurden zu Wechselwählern. Wie Mark Ruff auch für Westdeutschland festgestellt hat, entstand nach 1945 so etwas wie eine einheitliche nationale Kultur, in der sich die regionalen, konfessionellen und klassenmässigen Fragmentationen der Vorkriegszeit auflösten. 19
In der Schweiz äusserte sich die ideologische Nivellierung in einer fortschreitenden Entkonfessionalisierung des Alltags, was zunächst kaum bemerkt wurde. Eine zentrale Rolle spielten die elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen und die Boulevardpresse, die mit dem «Blick» 1959 in der Schweiz Einzug hielt. 20Säkulare Ideen über Demokratie und Religionsfreiheit und über das Verhältnis der Geschlechter stiessen in den Binnenraum des katholischen Kirchenvolkes vor. Die Katholiken übernahmen die Wertvorstellungen ihrer Umwelt, die sich mit den Verlautbarungen der Kirche nicht deckten. Wie in Deutschland versuchten die Katholiken in der Schweiz mit einer Kombination von wirtschaftlichem Modernismus und kulturellem Konservativismus das Überleben ihres Sozialmilieus zu retten, was indessen fehlschlug. Damit verlor der Katholizismus als Weltanschauung seine Homogenität und seine bisherige Abwehrstellung gegen die Moderne. In einem gewissen Sinn bedeutete die kulturelle Anpassung an die dominante Leitkultur eine «Protestantisierung» des schweizerischen Katholizismus. 21
Dieser Prozess lässt sich gut an der Entwicklung des katholischen Pressewesens illustrieren, das im 19. Jahrhundert in der ganzen Schweiz aufgebaut worden war und ein breites Netz von lokalen Zeitungen als Unterstützung der katholischen Sondergesellschaft herausgebracht hatte. 22Von dem Konzentrationsprozess in der Schweizer Presse, der Ende der 1960er-Jahre einsetzte, waren neben den sozialdemokratischen die katholisch ausgerichteten Zeitungen besonders stark betroffen, denn sie vermochten ihren steigenden Kapitalbedarf nicht mehr zu decken und litten darunter, dass sie von Grossinserenten zunehmend übergangen wurden. Rund um das Luzerner «Vaterland», das führende Blatt der CVP-nahen Zeitungen in der deutschen Schweiz, entstand im Verlauf der 1970er- und 80er-Jahre ein Kopfblattsystem, das sich auf seinem Höhepunkt vom Wallis bis in die Ostschweiz erstreckte.
Neben diesen strukturellen Veränderungen im Zuge der Pressekonzentration sah sich die katholische Presse in ihrem Selbstverständnis herausgefordert. Carl Mugglin meinte 1973 rückblickend auf seine «Vaterland»-Redaktionstätigkeit in den Jahren 1953–1963: «Damals war alles noch schön eingeteilt: Auf der einen Seite die Kirche, auf der anderen Seite die Partei.» 23Die junge Journalistengeneration stellte dieses Denken in Frage. 1964 wurde das Seminar für Journalismus an der Universität Freiburg gegründet. Die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Presse führte bis 1970 jährlich Fortbildungskurse durch.
All diese Kooperationsinitiativen vermochten jedoch laut David Luginbühl nicht zu verhindern, dass die partei- und konfessionsorientierten Tageszeitungen verschwanden, indem sie mit regionalen Rivalen fusionierten wie 1991 das «Vaterland» in Luzern oder eingestellt wurden wie 1997 die «Ostschweiz» in St. Gallen. In der Westschweiz konnte sich die Freiburger «La Liberté» halten, öffnete sich aber politisch zur Forumszeitung.
Das Ende der katholischen Presse bedeutete einen nachhaltigen Einschnitt. Der CVP fehlten fortan Presseorgane, die sich in der Vielfalt der Presse durchzusetzen vermochten und als Meinungsmacher auch zur Stabilisierung des eigenen Lagers dienten.
Endgültiges Ende des Kulturkampfes
Für die CVP war wegweisend, dass in den 1960er- und 70er-Jahren der Kulturkampf des 19. Jahrhunderts endgültig zu Ende ging. 1963 stellte man im Kanton Zürich die katholische der evangelisch-reformierten Landeskirche gleich. 1973 wurden in einer hitzigen nationalen Volksabstimmung die konfessionellen Ausnahmeartikel, die die Jesuiten diskriminiert und die Errichtung von Klöstern erschwert hatten, aus der Bundesverfassung gestrichen. 241999 wurde das Wahlverbot für Geistliche und 2001 schliesslich der sogenannte Bistumsartikel aufgehoben. Damit fielen die letzten klassischen Postulate des politischen Katholizismus weg, die der Katholikenpartei ein Jahrhundert lang die Raison d’être gegeben hatten.
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