Wie die restliche einheimische Bevölkerung waren auch deren Jugendliche nicht unvoreingenommen gegenüber den Flüchtlingen. Als eingefleischte Diaspora-Jugend waren die katholischen Jugendlichen in den Städten Mitteldeutschlands in geschlossenen Gruppen mit einem gewissen Maß an Elitebewusstsein organisiert, was sich abgesehen von der engagierten Sorge um die Neuankömmlinge auch in gewissen Vorbehalten gegenüber jenen ausdrückte. Diese Vorbehalte schlugen sich sogar in der Sprache nieder. 290Die religiöse Sozialisation der oft dörflich und traditionell aufgewachsenen Jugend der Vertriebenen unterschied sich sehr stark von der meist städtischen Diasporajugend. Die Vertriebenen waren geprägt durch die alltäglichen christlichen Bräuche im vertrauten Umfeld, in dem sie als volkskatholische Jugendliche aufgewachsen waren. Daher standen sie der für sie ungewohnten religiösen Praxis der städtischen Diaspora mitunter reserviert gegenüber. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Jugend aus den Ostgebieten, oft so groß, dass die Jugendlichen der Vertriebenen in manchen Gemeinden die bisherige Jugend der Anzahl nach stark dominierten, machte allein noch keine Beheimatung aus. 291Das manchmal sehr ausgeprägte Selbstbewusstsein der Diasporajugend war auch nicht immer einladend. Schwieriger noch war die Situation auf dem Lande. Dort gab es zumeist kein katholisches Jugendleben, in das sie integriert werden konnten. Die ihrer Wurzeln beraubten Jugendlichen hatten weder eine katholische Jugendgruppe noch einen Seelsorger als Ansprechpartner.
Auf der anderen Seite mussten die einheimischen Seelsorger und die wenigen Jugendseelsorger erfahren, dass ihre bewährten Methoden der Diasporaseelsorge bei den Vertriebenen nicht in dem Maße fruchteten, wie sie es gewohnt waren. 292Vom ganzen Dorf, der ganzen Pfarrei oder der Altersgruppe begangene katholische Feiertage, die regelmäßig stattfindenden Gebetskreise, die Mitgliedschaft in den Marianischen Congregationen oder die Teilnahme an Wallfahrten gehörten zu den vertrauten religiösen Vollzügen der Jugend aus den Ostgebieten. Solche Angebote gab es in der Diaspora nicht. In Erinnerung an gewohnte Gruppenabende mit 100 Jugendlichen in Breslau oder die Wallfahrten zum Annaberg mit zehntausend Jugendlichen, bestimmt vom eigenen Gepräge des schlesischen Brauchtums, wie der besonderen Marienfrömmigkeit, mussten sich die Jugendlichen in der neuen Diasporasituation fremd vorkommen. Die Jugend in der Diaspora hingegen wuchs schon immer in einer Situation der Minderheit auf, die auch eine in sich relativ geschlossene Gruppenbildung nach sich zog. Außer dass man sich zur katholischen Jugend zugehörig fühlte, gab es also vorerst nicht allzu viele Gemeinsamkeiten. 293Beide Gruppen lebten zunächst so stark nebeneinander, dass sogar über die Bestellung eines eigenen „Flüchtlingsseelsorgers“ nachgedacht wurde. 2941948 wurde das „Dezernat für Flüchtlingsseelsorge“ mit der Aufgabe eingerichtet, die Integration der Vertriebenen zu unterstützen. 295Als nebenamtlicher Referatsleiter fungierte O. Müller. Das Dezernat bestand allerdings nur für kurze Zeit, denn es lag auch im Interesse einer geordneten Pfarrseelsorge, die verschiedenen Gruppen der vertriebenen Katholiken möglichst schnell in die bestehenden bzw. neu entstandenen Gemeinden zu integrieren.
Die katholische Jugend der Diaspora wurde von den Seelsorgern ermuntert, Kontakt zur Jugend aus den Ostgebieten aufzunehmen. Dazu zählte zunächst einmal die persönliche Begrüßung am Bahnhof durch die Jugendlichen des Ortes. 296Wer sich in die bestehenden Jugendgruppen einbringen wollte, wurde auch recht schnell integriert. 297Aber es gab auch weniger behutsamen Umgang mit den Vertriebenen. In dieser Weise konnte der Vorschlag von W. Weskamm verstanden werden, für die „Flüchtlinge“ besondere Gottesdienste abzuhalten, damit sie den religiösen Sinn ihrer Heimsuchung verstünden und sich der Seelsorge des Kommissariates bewusster einordnen könnten. Dazu wurden besondere Einkehrtage, „Missionen“ oder sogenannte „Triduen“ 298für die Vertriebenen im ganzen Bereich des Kommissariates angeboten. 299Die mit den Vertriebenen ziehenden Seelsorger versuchten den Leidensbrüdern und –Schwestern, so weit es ging, Beistand zu leisten. Der Bischof vom Ermland, M. Kaller, selbst Vertriebener, oder andere versuchten als „Flüchtlingsseelsorger“ den Heimatvertriebenen bei der religiösen Bewältigung ihres Schicksals zu helfen. 300Aus den Tagebuchnotizen der Michaelgruppe von Halle-Mitte zu diesem Tag wird die von Bischof Kaller vermittelte theologische Interpretation der Vertriebenenproblematik deutlich. Die Aufgabe der Jugend unter den Vertriebenen sei es, ihr Leiden als Sühneopfer für das deutsche Volk und die sündige Welt zu ertragen. Daraus ergäbe sich zugleich die Aufgabe für die Jugend der Diaspora, die Teilnahmslosigkeit zu überwinden und die heimatlosen Brüder aufzunehmen. Die gegenseitige Bereicherung und neu gewonnene Lebenskraft drücke sich im gemeinsamen Gebet und gemeinsamer Arbeit aus. 301
Die Jugend aus dem Osten hatte ihre Heimat verloren und sie stand in der Auseinandersetzung mit der Diaspora davor, auch ihre traditionellen religiösen Ausdrucksformen aufgeben zu müssen. Dem volkskirchlichen Christentum wurde zudem die besondere Vorbildfunktion der Diasporachristen gegenübergestellt. Auch wenn sie sehr pauschalisierend klingen mag, brachte die Tagebuchnotiz eines Jugendlichen aus Halle damaliges Empfinden auf den Punkt: „Die Jugend der Umsiedler kommt aus Gebieten, in denen oftmals eine Äußerlichkeit und Lauheit im religiösen Leben eingetreten ist. Sie können aus dem Geist lebendigen Glaubens, wie ihn am schönsten die Vorpostenstellung der Diaspora heranzieht, neue Kraft empfangen.” 302Die Christen der Diaspora verstanden sich als etwas Besonderes. Sie waren es, die unter schweren Bedingungen ausgehalten hatten, demgegenüber sei das christliche Leben unter volkskirchlichen Bedingungen einfacher zu gestalten gewesen. Oft hatten die Seelsorger mit der Mentalität der Jugend aus den Ostgebieten zu kämpfen. Die Erwartungen der Jugendseelsorger entsprachen nicht unbedingt den Bedürfnissen der Jugendlichen, wie Pfarrer Schmidt resignierend feststellen musste. Er beklagte sich darüber, dass eine große Schar Jugendlicher sich zurückhielte und „für eine intensive Arbeit in unserem Sinne und Formung im bündischen Stil in keiner Weise ansprechbar“ sei. Selbst in der Einschätzung der Vertriebenen wurden noch Unterschiede gemacht. Vertriebener war nicht gleich Vertriebener und Flüchtling nicht gleich Flüchtling. 303Bei manchen Klerikern hatten unter den Vertriebenen besonders die Sudetendeutschen einen schlechten Ruf. 304Derartige Stigmatisierungen verdeutlichen, dass nicht von allen Seelsorgern die besondere Problematik der heimatlosen Jugendlichen wahrgenommen wurde. Diese Haltung der Priester behinderte zugleich die Beheimatung der Vertriebenen. 305Letztendlich lösten sich erst mit dem Verschmelzen von Diasporajugend und der Jugend aus den Ostgebieten in den folgenden Jahren solche Schwierigkeiten allmählich auf.
Ungeachtet aller anderen Faktoren war die seelsorgliche Arbeit unter den Vertriebenen auch dadurch erschwert, dass ganz selbstverständliche Dinge für die religiöse Praxis fehlten. Es gab keine einheitlichen Lieder, nicht einmal eine überall gebräuchliche Melodie bei gleichem Text. 306Auch die religiösen Bedürfnisse und Frömmigkeitsformen der Jugendlichen waren verschieden. Das zeigte sich schon bei der Begrifflichkeit. So wurden in Halle die Jugendlichen darauf hingewiesen, statt wie bisher bereits üblich vom „Gottesdienst“ wieder von der „Heiligen Messe“ zu sprechen, um die Hinzukommenden nicht zu verwirren. 307Die Jugendlichen, die in volkskirchlichem Kontext sozialisiert waren, fühlten sich in dem religiös eher herausfordernden Alltag der Diaspora nicht wohl. Wallfahrten, das katholische Milieu, die vielfältigen Formen der Marienverehrung fehlten oder waren in der Diasporasituation nur lokal ausgeprägt. Die Unterschiede verstärkten die Befürchtungen der Seelsorger, dass die Flüchtlingsjugend von der relativ geschlossenen, ansässigen Jugend nicht aufgenommen werden könnten. 308Auch wenn Einzelbeispiele zeigen, dass dem nicht so sein musste, war es oft sehr schwierig, zwei derart unterschiedliche Traditionen zu verschmelzen. Der pastorale Ansatzpunkt für die Seelsorge an der Jugend aus den Ostgebieten war aus diesem Grunde in erster Linie, alle Jugendlichen zu sammeln mit dem Ziel, in jeder Gottesdienststation mindestens eine gemeinsame Jugendgruppe zu gründen und durch den gemeinsamen Glaubensvollzug die Verschiedenheit der beiden Seiten zu überwinden. 309
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