Nicht ohne Simon Kindesentführungen aus der Schweiz
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz: Hannes Gloor, Zürich
Bildbearbeitung: Humm dtp, Matzingen
ISBN Druckausgabe |
978-3-03919-485-8 |
ISBN E-Book |
978-3-03919-958-7 |
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Einleitung
Die Entführung
Beatrix’ Indienreise
Das Ehepaar Jetly in Schwierigkeiten
Irrlauf durch Behörden und Institutionen
Rettungsengel Kantorik
Die Rückholaktion aus Indien
Viel Arbeit für die Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern
Die Mühen der Stiftung gegen Kindesentführung
Ein Leben mit Schulden und Angst
Die Kindesrückführungen in der Kritik
Der tragische Abgang eines Helden
Simons Dankbarkeit
Epilog
Nachwort von Beatrix Smit
Nachwort des Autors
Quellen
Bildnachweis
Autor
Anmerkung
Beatrix Smit ist wegen eines Artikels in der Zentralschweiz am Sonntag zum Thema Kindesentführung aufgewühlt. Es geht um eine Schweizerin, die ihrer beiden Söhne beraubt wurde. Ihr Ex-Partner hat diese 2010 in seine Heimat zu seinen Eltern in eine tunesische Kleinstadt verschleppt. Die Chancen, dass die Mutter ihre Söhne bald wieder in die Arme schliessen kann, stehen schlecht. Tunesien hatte damals das Haager Übereinkommen zu internationalen Kindesentführungen noch nicht unterzeichnet. Dies tat der nordafrikanische Staat erst 2018. Das Haager Übereinkommen besagt, dass entführte Kinder möglichst rasch wieder zu jenem Elternteil zurückkehren sollen, bei dem sie vorher gelebt haben. Juristisch sind der Mutter also die Hände gebunden: Das Schweizer Urteil, das ihr die Kinder zuspricht, wird in Tunesien nicht anerkannt.
Beatrix ist dieses Szenario vertraut. 1981 entführte ihr Ex-Mann den damals zweieinhalbjährigen Asheesh nach Indien. Auch sie hatte das Sorgerecht für ihren Sohn erhalten. Auch ihr Ex-Partner, ein Inder, missbrauchte das Besuchsrecht, um mit dem kleinen Buben in seine Heimat zu fliegen. Indien ist dem Haager Übereinkommen bis heute nicht beigetreten. «Das Recht auf mein Kind hört offenbar an der Schweizer Grenze auf»: Diesen Satz schrieb Beatrix 1982 an Bundesrat Kurt Furgler.
Pro Jahr werden in der Schweiz rund 100 Kindesentführungen durch einen Elternteil registriert. Werden die Kinder in Nichtvertragsstaaten verschleppt, hat das Bundesamt für Justiz keine rechtlichen Möglichkeiten, deren Rückgabe zu verlangen. Betroffene Schweizer Väter und Mütter können zwar das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten einschalten. Die Schweizer Botschaft vor Ort kann zum Beispiel versuchen, den Kontakt zum Entführer herzustellen. Sie kann aber weder Schweizer Gerichtsurteile durchsetzen noch eine Ausreiseerlaubnis für das Kind erwirken. Mit anderen Worten: Wenn der entführende Elternteil nicht kooperiert und die Kinder versteckt, hat der alleingelassene Elternteil praktisch keine Chance, die geliebten Kinder wiederzusehen.
Nach einem langen Marsch durch Behörden und Institutionen stand Beatrix genau an diesem Punkt. Sie resignierte aber nicht, sondern engagierte einen professionellen Kindesrückführer, der eng mit der damals frisch gegründeten Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern zusammenarbeitete. Beatrix scheute keinen Aufwand und kämpfte um ihr Kind. Heute will sie betroffene Elternteile ermuntern, es ihr gleichzutun – mit ganzer Kraft und vollem Elternherz. Einige der Kapitel in diesem Buch ergänzt sie mit persönlichen Bemerkungen.
Berichte über betroffene Eltern haben mich stets tief berührt. Ich habe jeweils mitgelitten und mir überlegt, wie ich helfen könnte. Vielleicht kann ich für das Thema sensibilisieren, wenn hier – unter anderen – die abenteuerliche Geschichte von mir und meinem Sohn erzählt wird.
Samstag, 28. November 1981, 9 Uhr, Moosmattstrasse 56, Luzern: Beatrix Smit fühlt sich unwohl in ihrer Dreizimmerwohnung. Heute ist wieder Besuchstag. Ex-Mann Anil, den sie in Indien geheiratet und einst geliebt hat, ein attraktiver Mann, längeres Haar, voller Bart, holt Asheesh ab. Er hat mehrmals gedroht, ihr den zweieinhalbjährigen Sohn zu entreissen. Auf juristischem Weg versuchte er, einen dreiwöchigen Besuch bei den Grosseltern in Indien zu erzwingen. Die zuständige Justizkommission des Kantons Zug winkte ab: «Es liegt doch wohl nicht im Interesse des Kindes, wenn es bereits als Kleinkind durch Eindrücke aus zwei vollkommen verschiedenen Kulturkreisen verwirrt würde und unter schlechten hygienischen Verhältnissen während seiner Ferien leben müsste.»
Szenenwechsel: Vor vier Tagen ist Irma Samir* auf der Treppe vor dem Bieler Amtshaus in einen Hungerstreik getreten. 1Ihr Mann Mahmoud*, ein Jordanier ägyptischen Ursprungs, ein Anhänger der Muslimbrüder, hat ihre drei Söhne an einem unbekannten Ort in Ägypten untergebracht. Das Zivilgericht Biel hat das Sorgerecht trotzdem dem Entführer zugesprochen. Beatrix verfolgt den Fall, über den die Medien ausführlich berichten, mit Sorge – es könnte auch ihr passieren. Väter, die sich mit ihren Kindern absetzen und sie in ihrer Heimat verstecken, sind kein Hirngespinst hysterischer Mütter, sondern traurige Realität.
Es ist kalt an diesem Wochenende, der Winter hält Einzug, es schneit bis in tiefe Lagen. Der «kalte Geselle», heisst es am Montag im Luzerner Tagblatt, sei wieder mit Urgewalt über die Lande gefegt und habe seine weisse Pracht abgeladen. Und Anil? Wird er, der wie damals, als die Ehe mit Beatrix noch funktionierte, in Zug wohnt, gut zu seinem Sohn schauen, ihn genug warm anziehen, die Windeln wechseln? Schon mehrmals war Asheesh nach dem Besuchstag erkältet, einmal hatte er sogar eine Lungenentzündung. Anil wisse offenbar nicht, wie man zu einem Kleinkind schaue, hielt Beatrix in einem Brief an die Frauenzentrale Zug fest. Sie hat ihn per Brief gebeten, Asheesh mindestens zwei Mal pro Tag zu wickeln, seine Kleidung dem Wetter anzupassen. Anil ereifert sich über die Anweisungen und lässt sich nichts sagen; er wisse schon, wie er mit seinem Sohn umzugehen habe. Eigentlich findet es Beatrix schon lange unverantwortlich, Anil das Kind zu überlassen, allein schon wegen der mangelhaften Pflege. An diesem Samstag, an diesem stürmisch-kalten Novembertag, ist das aber Beatrix’ kleinere Sorge. Die Angst, dass sich Anil mit Asheesh nach Indien absetzen könnte, betäubt Beatrix mit Schlafmittel – wie an vielen anderen Besuchstagen zuvor.
19 Uhr: Jetzt endet das Besuchsrecht. So steht es im Scheidungsurteil. Den gemeinsamen Sohn, ein pflegeleichter, gewiefter Junge, hat Anil schon öfters ein bisschen später zurückgebracht. Beatrix hat ihm das nicht verübelt, sie will ihm Asheesh nicht vorenthalten. Er liebt ihn, ja vergöttert ihn. Ein Kind, denkt Beatrix, ein Kind braucht Mutter und Vater, und Asheesh mag seinen Vater gerne. Jetzt aber, an diesem Abend, wächst die Unruhe, die Furcht, dass Anil seine Drohung wahr machen könnte. Er leidet an Heimweh. Eine kleine Rückversicherung hat Beatrix allerdings: Über Asheeshs Pass wacht sie, ohne Papiere kann er die Schweiz nicht verlassen.
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