» […] durch das reiche Maß von Gottes Gnade […]
War dieser so in seinem jungen Leben
Geschaffen, daß ihm jede gute Gabe
Sich hätte wunderbar entfalten können.
Doch soviel böser wächst und soviel wilder
Das Ackerland mit schlechtem, rohem Samen
Je mehr es in sich trägt an guten Kräften.
Für kurze Zeit gab ihm mein Antlitz Stärke ;
Indem ich ihm die jungen Augen zeigte,
Führt’ ich ihn mit mir auf dem rechten Wege.
Sobald ich auf der Schwelle angekommen
Des zweiten Alters und das Leben tauschte,
Verließ mich dieser und ergab sich andern.
Als ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen,
In Schönheit und in Tugend noch gewachsen,
Ward ich ihm weniger genehm und teuer.
Er wandte seinen Schritt auf falsche Wege
Und folgte trügerischen Wunschgebilden,
Die kein Versprechen jemals ganz erfüllen. […]
So tief fiel er, daß alle andern Wege
Zu seinem Heile schon vergeblich waren,
Außer dem Anblick der verlornen Seelen.« 233
Die durch Beatricens Anklage initiierte Gewissenserforschung Dantes knüpft an Purg. IX an, wo er am Eingangstor zum eigentlichen Läuterungsberg (mit seinen sieben Stufen der jeweiligen Sündenschuld) in seine Buße eingewiesen wird. 234Das Sakramentenverständnis der Kirche einholend (in der Reihenfolge Reue [ contritio ], Bekenntnis [ confessio ], Genugtuung [ satisfactio ] und Lossprechung [ absolutio ]) 235rufen die Worte Beatricens in ihm zunächst Reue hervor, indem sie von seiner hohen Begnadung spricht ; das Vergeuden eines Talentes wiegt umso schwerer, je mehr Erwartungen an es geknüpft waren (gemäß Lk 14,15 ff. und v. a. Lk 19,11 ff.). 236Die einzige Möglichkeit seiner Umkehr sieht Beatrice in der drastischen Anschauung derjenigen, die in Ewigkeit scheiterten und des Ganges mit jenen, die vor ihrem Eintreten in die ewige Glückseligkeit selbst nach Läuterung streben, angetrieben von ihrer noch verbliebenen Restschuld (Purg. XXX, 136–141, vgl. analog hierzu die Aussagen in Inf. II). Der (An)Klage ( accusatio ) folgt in Purg. XXXI die Beichte ( confessio ). In Purg. XXXI, 22–30 237wiederholt Beatrice die Anklage – fragend nach den Gründen seines Verirrens – und Dante gibt eine schuldeingestehende Antwort, die gerade nicht eine Relativierung ihrer selbst durch Anführung mildernder Umstände intendiert und wieder auf die fehlende Orientierung an Beatrice anspielt. 238Gerade das Eingeständnis Dantes (dessen Bedeutung für die gesamte Beichte ist in Purg. XXXI, 37–42 angesprochen) nach der Anklage Beatricens, die ihm (schon allein ihr Name) Ehrfurcht und Respekt einflößt (Par. VII, 13–15), zeigt, dass nicht ihr vermeintliches Fernbleiben, ihre Unerreichbarkeit, Grund seiner Schuldbefangenheit ist, vielmehr er selbst seine Augen von der Erhöhten abwandte (dem entspricht Purg. XXXI, 46 ff.). Auch der tote Leib ( carne sepolta ) hätte ihm Führer sein müssen, ja viel mehr als der irdische 239, derweil die Unbedingtheit des irdischen Erlebens (sozusagen der Einbruch des Transzendenten ins Immanente) nicht wieder durch Bedingtheiten des Lebens eingeholt werden kann, sondern Grunderlebnis für alles Weitere und insbesondere des Strebens nach der glückselig machenden Anschauung Gottes ist. 240
Nach Reue 241und Bekenntnis (die satisfactio ist durch den Aufstieg zum irdischen Paradies gegeben) sieht Dante erstmals im Laufe seiner Jenseitsreise in die Augen der geliebten Gottesführerin, die ihm Vorausgleichnis der visio beatifica sind. Beatrice verweist somit Dante auf sein Gewissen, sie redet ihm nicht Schuld ein, sondern öffnet ihm vielmehr die Augen, bewegt ihn zur Selbsterkenntnis, indem sie ihn den Weg der Selbstwerdung einschlagen lässt, ihn auf den rechten Weg der Gottsuche bringt. Durch ihren Eintritt in die Ewigkeit verklärte sie sich zum Sehnsuchtsbildnis unbedingter, absoluter Liebe und steht so für die Rückgewinnung der Blickrichtung hin zum Unbedingten, nachdem Dante durch die Verabsolutierung irdischer Güter das ewige Gut selbst aus den Augen verlor. Sie ist die personifizierte Aufforderung zur Transzendentalisierung kontingenter (scheiternder) Lebenswirklichkeit.
Das Bad (das Trinken bzw. die Taufe 242) im Lethefluss (Purg. XXXI, 91 ff.) durch Matelda versinnbildlicht Dantes Absolution ; er wird aufgenommen in den Reigen der Kardinaltugenden (Purg. XXXI, 104 in Anlehnung an Purg. XXIX, 130–132) und erblickt in Beatricens Augen (zunächst noch verschleiert) Jesus Christus (in der Greifengestalt ; Purg. XXXI, 115 ff. in Anlehnung an Purg. XXIX, 108–114). Die vier weltlichen Tugenden bereiten auf die drei theologischen (Purg. XXXI, 111) vor 243, die sich ihm im (nun unverschleierten) Anblick Beatricens zeigen, da sie sich in die Anschauung Gottes versenkend ihrer zweiten Schönheit erfreut ( la seconda bellezza ; Purg. XXXI, 138). H. Gmelin schreibt in seinem großen Dantekommentar hierzu : »Der Schluß des Gesanges bringt die abschließende Szene des Beichtaktes, das sichtbare Zeichen der Gnade für den Geläuterten, die Enthüllung Beatrices […] in dem sich das Augenmotiv der Minnedichtung mit dem Spiegelmotiv der transzendentalen Lichtsymbolik verbindet […]. Dieses Spiel der Blicke, in dem Beatrice die Mittlerin zwischen Dante und Christus darstellt, ist begleitet […] durch […] den Tanz der drei geistlichen Tugenden«. 244Beatrice, die Seligmachende, Allegorie des Gottschauens und der dahin führenden Gottesweisheit, ist hier als Mittlerin 245ausgezeichnet ; in ihr und durch sie erblickt Dante die Unbedingtheit der göttlichen Liebesfülle. In der Transzendierung irdischer Liebeserfahrung (im Gegenüber/Anblick des geliebten Du) gewinnt diese erst ihre Tiefe, da sie als Abbild der Liebe des Dreieinigen 246auch in ihm ihren Zielgrund weiß und dadurch vor Selbstvergottung geschützt ist. Selbstrelativierend ob ihrer Abkünftigkeit von Gott und ihrer Zukünftigkeit in Gott erfährt irdische Liebessehnsucht Mut zur Einholung der eigenen Bedingtheit und Anfälligkeit angesichts der Bedrohung aller kontingenten Wirklichkeit. Der Sackgasse der Verabsolutierung des Endlichen wird in der DC mit der Transzendierung irdischer Liebessehnsucht 247begegnet, die neue Wege gangbar macht, den Horizont und den Blick auf die Sterne eröffnet : Puro e dosposto a salire alle stelle . 248
3.1.3 Das Kirchenverständnis in den Gesängen zum irdischen Paradies
Neben der Begegnung mit Beatrice und der damit verbundenen Entsühnung Dantes als Voraussetzung der Weiterführung der Jenseitsreise durch die Himmel des Paradieses ist im irdischen Paradies auf der Höhe des Läuterungsberges das darin gezeichnete Kirchenverständnis bedeutsam. 249Mit Beatrice, der Führerin zur Seligkeit, tritt die Kirche in ihrer himmlischen Pracht ( ecclesia triumphans ), aber auch in ihrer irdischen Anfälligkeit in Erscheinung. Neben der Anklage Beatricens, dem persönlichen Sündenbekenntnis Dantes und seiner Läuterung wird parallel die Schuldverfangenheit weltlicher Machtansprüche der Kirche zur Sprache gebracht und der Gestalt Beatricens (als Verkörperung der idealen, da sich ganz der Gottsuche und Offenbarungsverkündung anheimgestellten Kirche mit ihrer entsprechenden Theologie) gegenübergestellt. 250
In Purg. XXIX begegnet Dante im lichten Wald des irdischen Paradieses einer Prozession, dem Zug der himmlischen Kirche. Sieben Leuchtern (den sieben Gaben des Geistes) 251folgen die 24 Greise der Offenbarung des Johannes (in weißen Kleidern ; Purg. XXIX, 64–66) 252ein Marienlob anstimmend, schließlich die vier Evangelisten (nach Ez 1,4 ff. und Offb 4,6 ff.), bevor im Zentrum der Prozession ein Triumphwagen, der die Kirche repräsentiert 253(und dessen Räder für das AT und NT stehen könnten), gezogen von Christus in der Gestalt eines Greifes – seine Gottmenschlichkeit andeutend 254– zu erkennen ist (Purg. XXIX, 106–114). Das Gefährt ( carro ; ebd., 107) begleiten am rechten Rad die theologischen Tugenden (drei tanzende Frauen in den entsprechenden Farben), am linken die vier Kardinaltugenden. Ihnen folgen Lukas (die Apostelgeschichte) und Paulus (dessen Briefkorpus), schließlich bilden die Personifikationen der vier sog. Katholischen Briefe 255und der Apokalypse den Schluss.
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