Stefan Silber
Postkoloniale Theologien
Eine Einführung
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
utb-Nr. 5669
ISBN 978-3-8252-5669-2 (Print)
ISBN 978-3-8463-5669-2 (ePub)
Ohne es zu ahnen, hatte ich mich schon lange mit postkolonialen Themen beschäftigt, als ich etwa um das Jahr 2010 zum ersten Mal intensiv mit diesem Begriff und mit den Theorien und Studien, die damit verbunden sind, in Berührung kam. Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung und andere Theologien ‚der Dritten Welt‘ – wie man in den 1980er Jahren völlig selbstverständlich formulieren konnte – begleiten mich seit Beginn meines Theologiestudiums und bereits zwei bis drei Jahre zuvor. Später übten auch die vielfältigen interkulturellen und indigenen Theologien eine große Faszination auf mich aus, vor allem als ich 1997-2002 in Bolivien lebte und arbeitete. Alle diese Theologien entstanden in der Auseinandersetzung mit Kontexten, die man heute als postkolonial bezeichnen könnte. Die postkolonialen und dekolonialen1 Theorien, die sich in etwa derselben Zeit entwickelten, wurden erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren als wichtige GesprächspartnerInnen für die Fortentwicklung dieser Theologien in Anspruch genommen – wenigstens in meiner Wahrnehmung.
Die Auseinandersetzung mit postkolonialen Theologien war für mich dementsprechend folgerichtig. Zugleich bedeuteten sie für mich eine grundlegende theologische Verunsicherung. Denn der Standort, von dem aus ich diese Auseinandersetzung betrieb, war (und ist bis heute) der eines männlichen weißen Erstwelttheologen, der in Europa lebt und arbeitet. Genau dieser Standort wird aufgrund seiner vielfältigen hegemonialen Privilegien vom Postkolonialismus in Frage gestellt. Was bedeutet es demnach, von ihm aus über postkoloniale Theologien zu forschen und zu schreiben?
Gastprofessuren in El Salvador (2017) und Bolivien (2018) zum Thema des Postkolonialismus ermöglichten es mir, meinen persönlichen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit weniger privilegierten Perspektiven selbstkritisch zu schärfen. Diese Erfahrungen haben mich ermutigt, die Herausforderungen der postkolonialen Theologien auch deutschsprachigen Kontexten besser zugänglich zu machen. Denn unsere Welt ist im Ganzen postkolonial, nicht nur die Staaten, die aus den Kolonien hervorgegangen sind. Daher werden Kirche und Theologie insgesamt vom Postkolonialismus angefragt, gerade auch wir in Europa. Denn unsere koloniale Vergangenheit fordert uns immer wieder heraus, uns der postkolonialen Gegenwart und ihren Problemen zu stellen.
Diese Einführung in postkoloniale Theologien soll dem Ziel dienen, die Fragen und Herausforderungen post- und dekolonialer Studien für die Theologie besser kennenzulernen. Sie richtet sich auf grundlegende fundamentaltheologische und methodische Fragen und arbeitet dabei exemplarisch mit zahlreichen verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen theologischen Fachgebieten. Es lassen sich daher konkrete Überlegungen u.a. für die Exegese, die Dogmatik, die Kirchengeschichte, die Praktische Theologie, die Sozialethik und eben auch für die Fundamentaltheologie anschließen.
Ich danke zahlreichen GesprächspartnerInnen in Bolivien, Brasilien, El Salvador und aus anderen lateinamerikanischen Ländern, aber auch aus anderen Teilen der Welt sowie nicht zuletzt auch aus und in Europa für vielfältige hilfreiche Anregungen und konstruktive Kritik. Ebenso danke ich allen postkolonialen Theologinnen und Theologen, deren Literatur ich in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen lesen durfte, und die zum Teil in diesem Buch besprochen wird. Ich bemühe mich wiederzugeben, was ich gelernt habe. Alle Fehler und Fehleinschätzungen sind daher meine eigenen; die Leistungen und Erkenntnisse postkolonialer Theologien verdanke ich anderen.
Sailauf, 1. Februar 2021
Stefan Silber
1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen
Postkoloniale Studien und Theorien machen immer mehr von sich reden. Das Stichwort taucht inzwischen in sehr vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen auf. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit auch in der Theologie eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen. In Deutschland steckt die Diskussion dazu jedoch eher noch in den Kinderschuhen.
Der Begriff ‚post-kolonial‘ kann dabei leicht zu Missverständnissen führen. Denn er bezieht sich in einem chronologischen Sinn zunächst lediglich darauf, dass diese Studien zeitlich ‚nach‘ dem Ende der kolonialen Herrschaften insbesondere Großbritanniens und Frankreichs in vielen Ländern Asiens und Afrikas in der Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. In einer inhaltlichen Perspektive geht es in der postkolonialen Kritik jedoch gerade darum aufzudecken, inwiefern die koloniale Herrschaft, ihre Denkweisen, ihre prägende kulturelle Kraft und ihre politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen über das offizielle Ende der Kolonialzeit hinaus erhalten geblieben und – möglicherweise in veränderten Gestalten – weiterhin wirksam sind.
Das zweite mögliche Missverständnis besteht darin, dass das Adjektiv ‚kolonial‘ in einem verengten Sinn nur auf Tatsachen und Verhältnisse bezogen wird, die offen und unmittelbar mit dem Kolonialismus zu tun haben. Die postkolonialen Studien machen hingegen darauf aufmerksam – und dies wird auch ein wesentliches Thema dieses Buches sein – dass die Kolonialzeit und die kolonialen Beziehungen eine sehr viel breitere und tiefere Wirkung und Wirkungsgeschichte entfaltet haben als gemeinhin angenommen wird. Der Postkolonialismus schließt daher auch gesellschaftliche und kulturelle Phänomene in seine Analysen ein, deren Zusammenhang mit dem Kolonialismus vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Postkoloniale Studien beschränken sich also nicht einfach auf eine Kritik des historischen Kolonialismus, sondern analysieren gegenwärtige kulturelle, wirtschaftliche und politische Konstellationen daraufhin, inwieweit sie durch historische Erfahrungen der Kolonialzeit bis in die Gegenwart hinein geprägt sind.
Bevor es in den weiteren Kapiteln dieses Buches um eine Einführung in die sich entwickelnden postkolonialen Theologien geht, sollen in einem ersten Schritt einige Grundlagen erarbeitet werden: Es folgt zuerst ein ganz knapper Überblick über die Geschichte und die Anliegen der postkolonialen Studien (mit Hinweisen auf sehr gute Einführungstexte in diese Theorien; vgl. 1.2). Anschließend stellen sich die Fragen, warum diese Studien auch eine Bedeutung für die Theologie besitzen (1.5) und warum man sich ihnen auch heute (1.4) und gerade auch in Deutschland stellen sollte (1.3). Zur Veranschaulichung stehen am Beginn drei kurze narrative Zugänge, die sehr gut in die Thematik einführen (1.1).
Die tunesische Historikerin und Journalistin Sophie BessisBessis, Sophie erinnert sich an ihre Kindheit im Lyzeum Jules Ferry während der kolonialen Epoche Tunesiens:
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