Getragen vom Jesuitenorden, ist und bleibt „Geist und Leben“ ignatianisch, weniger im Sinn einer „spirituellen Richtung“, also bestimmter Inhalte, sondern im Sinn einer „Weise des Vorangehens“ – das Ignatianische ist ja mehr ein Stil als ein Inhalt. Die ignatianische Weise inspiriert sich aus der großen biblischen und kirchlichen Tradition und Weisheit, dabei ist sie im Denken frei und immer wieder offen für Neues, das Gespräch mit den Wissenschaften suchend, interkulturell und interreligiös dialogisch, kritisch unterscheidend, eher nüchtern und behutsam urteilend, vermittelnd mit dem konkreten Leben; sie ist eben – das ist unser Vorhaben – Geist und Leben.
Gregor Etzelmüller |Heidelberg
geb. 1971, verheiratet, 2 Kinder, apl. Professor für Systematische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
gregor.etzelmueller@wts.uni-heidelberg.de
„Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“
Evangelische Spiritualität heute *
„Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ (Joh 6,63). Dieser Vers führt ins Zentrum evangelischer Spiritualität. Deutlich klingt im zweiten Satz die von allen Reformatoren vollzogene Konzentration des öffentlichen gottesdienstlichen Lebens, aber auch der Frömmigkeit auf das Wort an. Dabei wird deutlich: Das Wort ereignet sich in mündlicher Verkündigung, es ist gepredigtes, nicht geschriebenes Wort. Weil evangelische Frömmigkeit das gepredigte Wort sucht, hält sie sich zur Gemeinde. Bedenkt man den Kontext der Stelle, die Brotrede Jesu in Joh 6, wird auch der Inhalt des Wortes deutlich: die Hingabe Jesu zugunsten der Welt. Evangelische Frömmigkeit lebt davon, dass Christus sich den Seinen als Brot des Lebens schenkt.
Exegetische Beobachtungen
Exegetisch stellt sich im Blick auf Joh 6,63 die Frage, warum es von dem Fleisch, von dem zuvor in Joh 6 als dem für die Welt dahingegebenen Fleisch Jesu gesprochen war (vgl. 1,14), nun heißen kann, dass dieses nichts nütze. Hält man an der Kohärenz des Textes fest, wird man sagen müssen: Fleisch und Leben Jesu bleiben nutzlos, sofern der Heilige Geist nicht Menschen in die Wahrheit führt und so dazu bewegt, sich das Fleisch und Blut Christi geistlich einzuverleiben: „Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes verzehrt und mein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch.“ (6,53) Das Fleisch Jesu, sein Leben, wirkt Leben nur dort, wo es durch den Geist Gottes erschlossen und aufgenommen wird.
Mit dieser Interpretation erübrigt es sich, die Brotrede Jesu auf die Feier des Abendmahls zu beziehen. Essen und Trinken des Fleisches und Blutes Christi sind „metaphorisch als glaubendes Sich-Einverleiben“ des Lebens Jesu zu verstehen. 1„Wie die meisten der älteren griechischen und lateinischen Väter (…) so haben mit Luther und Calvin auch die meisten Reformatoren Joh 6 ohne jegliche Beziehung auf die Eucharistie als christologische Rede und das ‚Essen des Fleisches‘ und ‚Trinken des Blutes‘ dementsprechend als Metaphern für die Aneignung des gekreuzigten Jesus durch den Glauben verstanden“. 2
Wie aber kommen Menschen dazu, sich auf das Leben Jesu einzulassen und es sich einzuverleiben? Joh 6,63 gibt darauf eine zweifache Antwort: zum einen durch den Geist, zum anderen durch das Wort. Dass der Geist zunächst als Subjekt, dann als Prädikatsnomen fungiert, verweist auf die wechselseitige Verwiesenheit von Wort und Geist, wie sie auch die erzählte Situation in Joh 6 verdeutlicht: Jesu Worte finden nicht bei allen Glauben. Das menschliche Wort der Verkündigung vermag nicht alle zu überzeugen. Nach seiner Rede ziehen sich viele der Jünger(innen) Jesu zurück (6,66). Um Glauben zu finden, muss der Geist Gottes der Schwachheit der mündlichen Verkündigung aufhelfen. Deshalb verweist Christus die Jünger(innen) nach seiner Rede auf seine Auffahrt (6,62), denn diese ist nach dem Johannesevangelium Voraussetzung des Kommens des Parakleten, des Heiligen Geistes (vgl. 7,39; 14,16; 16,7) 3. Doch der verheißene Paraklet führt die Jünger(innen) gerade so in alle Wahrheit (16,13), dass er sie an alles erinnert, was Christus gesagt hat (14,26). Er redet „nicht aus sich selbst“, sondern verherrlicht allein Christus (16,13f.). Das Wort ist, um Glauben zu finden, auf die Kraft des Geistes angewiesen – der Geist aber ist ganz auf das Wort, auf Jesus Christus, konzentriert.
Wem im Heiligen Geist die Worte Jesu erschlossen werden, so dass er/sie in ihnen Christus als Brot des Lebens ergreift, der gewinnt Anteil am Leben Jesu und deshalb am ewigen Leben. Denn ewig ist dasjenige Leben, das sich nicht dem natürlichen Kreislauf von Fressen-und Gefressen-Werden einfügt, sondern diesen Kreislauf in der Hingabe des Lebens durchbricht (vgl. 12,25). Deshalb wächst aus der Hingabe des Lebens Jesu neues Leben (12,24) – und deshalb gibt der johanneische Christus den Seinen nur ein einziges Gebot, nämlich „dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr auch einander lieben.“ (13,34)
Umstellung von Kult auf Kommunikation
Die sich in Joh 6,63 ausdrückende Hochschätzung des Wortes gewinnt durch die Reformation welt-, kirchen- und mentalitätsgeschichtliche Resonanz. Gegenüber den weitverbreiteten Stillmessen ihrer Zeit stellen die Reformatoren „von Kult auf Kommunikation“ um. 4Nicht durch kultisches Handeln, sondern durch die Verkündigung des Wortes soll die Gegenwart mit der Geschichte Jesu Christi verbunden werden.
Im Licht von Joh 6 wird man im Blick auf diese Konzentration des gottesdienstlichen Lebens auf das Wort dreierlei betonen müssen. Erstens: Es geht den Reformatoren um das mündliche Wort der Verkündigung. Ohne ihre Auslegung bleibt die Schrift als geschriebenes Wort toter Buchstabe. Denn nur in der Predigt erfährt der Glaube die alten Worte als ihm gegenwärtig zugesprochen. Deshalb gilt für die Reformatoren: Wenn die biblischen Lesungen nicht ausgelegt werden, dann bleibt „Gottis wort geschwygen“ (WA 12,35). Es ist die gegenwärtige Verkündigung, die „den garstigen Graben der Geschichte“ überbrückt, indem sie die Hörer(innen) in das Wort Gottes verstrickt – oder anders ausgedrückt: indem sie die Vergangenheit Jesu und die Gegenwart der Hörer(innen) so zusammenspricht, dass sie in die Gegenwart Christi versetzt werden.
Zweitens: Die Verkündigung zielt auf die Christusbegegnung. In, mit und unter den Worten des/der Predigenden, der/die jene Worte, die Christus einst zu seinen Jüngern sprach, auslegt, soll der/die Hörer(in) die Worte Christi selbst hören. Deshalb bittet und vertraut die evangelische Predigt darum und darauf, dass Christus selbst sich zu ihr bekennt: „Du hast recht geleret, denn ich hab durch dich geredt, und das wort ist mein.“ (WA 51,517)
Drittens: Indem das Johannesevangelium am Ende der Brotrede festhält: „Das sagte Jesus in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte“ (6,59), wird deutlich, wo die Verkündigung ihren Sitz im Leben hat: in der gottesdienstlichen Versammlung. Indem die Reformation den Glauben an die Predigt bindet, bindet sie ihn zugleich in den öffentlichen Leib der Gemeinde ein. In diesem Sinne ist die Rede von der Verinnerlichung der Frömmigkeit durch die Reformation nicht zutreffend. Die Gemeinde stützt und stärkt den Glauben. Der Glaube wird im Gottesdienst nicht nur unmittelbar durch die Verkündigung gestärkt, sondern auch mittelbar durch die auf das Wort hörende Gemeinde. Indem Menschen zum Gottesdienst kommen, bekunden sie einander wechselseitig, dass sie Gottes Wort suchen, weil sie von ihm her leben, und stärken damit wechselseitig ihren Glauben.
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