1. Individuell-autonome Religiosität: Der Ort von Religion „verschiebt sich aus dem Bereich der kirchlich institutionalisierten Religion in denjenigen des Individuums“. Das Individuum ist die Instanz, die seine Religiosität selbst zu wählen und zu verantworten hat. Eine „quasi-automatische Übernahme vorgeformter, kirchlich bereitstehender Lebensdeutungen und Frömmigkeitsformen“ geschieht in der Regel nicht mehr. Die erfolgte Pluralisierung auch im religiösen Bereich kommt dem Anspruch der Autonomie entgegen.
2. Bedarf nach religiöser Selbstthematisierung: „Mit der Autonomie und der Option für Pluralität ist implizit ein weiteres Element moderner Religiosität gegeben: Religion ist unter den Bedingungen der Moderne zunehmend nur mehr im Medium von Subjektivität oder gar nur als Subjektivität darstellbar.“ Das, wie bereits herausgestellt, starke Zurückgeworfensein der einzelnen auf ihr eigenes Selbst bedingt, dass die Frage nach der persönlichen Identität zunehmend zum zentralen Thema wird und dabei stark religiöse Züge annimmt.
3. Selbstbestimmt-pragmatisches Verhältnis zu den Kirchen: Die kirchliche Mitgliedschaft wird immer noch relativ selten ausdrücklich aufgekündigt (auch wenn die Zahl derer, die es tut, sich beträchtlich erhöht hat); sie wird als ein Element der persönlichen Lebensgeschichte gelten gelassen, das von Fall zu Fall auch aktiviert wird. Diese „Fälle“ werden allerdings von den Betroffenen bestimmt und nicht durch institutionelle Vorgaben gesteuert. Diese werden – wenn überhaupt – als fakultatives Angebot wahrgenommen.
4. Vielfalt religiöser Orientierungen und Attraktivität neureligiöser, esoterischer Ausformungen: Die Schweizerische Bevölkerung bezeichnet sich mehrheitlich als christlich. Faktisch geht damit eine Vielfalt religiöser Ausdrucksformen einher, nicht nur außerhalb der Kirchen, sondern auch innerhalb. Hierbei spielen die herkömmlichen konfessionellen Grenzziehungen so gut wie keine Rolle mehr. Das Spektrum reicht von religiöser Indifferenz über eine weit verbreitete und synkretistisch durchsetzte „diffuse Religiosität“ bis hin zu auf bewußter Entscheidung beruhenden Minderheitsreligiositäten sowohl fundamentalistischer als auch „aufgeklärter“ Spielart. Neureligiöse Orientierungen und Praktiken sind für manche Zeitgenossen deswegen attraktiv, weil sie – anders als in den traditionellen Kirchen – dort ihre Lebenssehnsüchte, Ängste und Nöte aufgenommen sehen. 37
Was für die Schweiz galt, ist sicherlich auf bundesdeutsche Verhältnisse übertragbar. Die Erkenntnisse dürften uns – nach allem was wir bisher reflektierten – kaum besonders irritieren. Dennoch stellen sie uns vor enorme Herausforderungen; zumindest wenn wir noch einmal das Projekt der Individualisierung im Rahmen von Moderne und Postmoderne in den Blick nehmen:
Es ist nachvollziehbar, wenn man in dem Individualisierungsschub der Postmoderne eine gewisse Radikalisierung des Freiheitpathos’ der Moderne sieht. Die Bedingung für die Individualisierung war die weitgehende Dezentrierung der traditionsorientierten Milieus und die ungeheure Ausweitung der individuellen Handlungsspielräume. Insofern kann man tatsächlich einen enormen Freiheitszuwachs verzeichnen. Allerdings ist mit Habermas und Peukert zu fragen: Welcher Freiheit? Denn selbstverständlich sind verschiedene Freiheitskonzeptionen denkbar. Das Projekt der Moderne kennt zwei grundverschiedene Freiheitskonzeptionen: Zum einen gibt es jene der totalen Selbstbestimmung, der radikalen Autonomie des von allen äußeren Zwängen losgelösten Subjektes; zum anderen aber wird mit großem Recht betont, Freiheit sei nur zureichend erfasst und praktiziert, wenn die je eigene Freiheit ihren Maßstab und ihre tiefste Begründung in der freien Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit finde und dass daher Freiheit nur als Akt der Intersubjektivität begriffen und praktiziert werden könne.
Der ersten Variante folgt eine Logik der Selbstbehauptung und Machtsteigerung, die man auch als instrumentell kennzeichnen könnte, der zweiten folgt eine Logik kommunikativer Praxis der wechselseitigen Anerkennung. Diese Unterscheidung ist insofern folgenreich, da für die pädagogische Praxis mit dem Ziel eines angemessenen Verständnisses sozialisatorisch-pädagogischer Interaktion nur das zweite Modell infrage kommt, als ein intersubjektives Handeln nämlich, „das dem anderen Freiheit als seine ursprüngliche Möglichkeit nie abspricht, sondern schon immer vorgreifend voraussetzt und darin seine unantastbare Würde sieht“ 38. Nun ist allerdings davon auszugehen, dass der gesellschaftlich relevante Freiheitsbegriff und das praktizierte Freiheitskonzept gerade ein solches Verständnis permanent unterläuft und dadurch fundamental erschwert.
Spätestens hier – so kann man mit Axel Honneth folgern – wirkt sich der Verlust von Traditionen verhängnisvoll aus, denn es „droht mit der Erosion der kulturell-normativen Überlieferungen, wie sie die geschichtsphilosophischen Konstruktionen etwa der sozialistischen oder religiösen Traditionen bereitstellten, […] die Gefahr einer Austrocknung des kulturell-normativen Interaktionsmediums der Lebenswelt“ 39, denn solch narrativ verfasste Überlieferungen waren es, „in denen sich die Mitglieder eines Gemeinwesens in ihrer Gegenwart noch kommunikativ auf eine gemeinsame Vergangenheit und eine entsprechend konstruierte Zukunft hin verständigen konnten“ 40.
Ich möchte dies mit dem schon angedeuteten Erinnerungsverlust noch einmal von einer anderen Seite vertiefen, denn der Verlust von Tradition hat seine Grundlage nicht nur in den Individualisierungs- und Freiheitstendenzen, sondern auch im Verlust von Erinnerung, die uns Christinnen und Christen besonders stark betrifft: immerhin ist unsere Glaubensgemeinschaft wesentlich auch Erinnerungsgemeinschaft, die sich jeden Sonntag um einen Tisch versammelt und dies „in seinem Gedächtnis“ tut. Sie erinnert dabei sowohl Freiheits- wie auch Leidensgeschichte und eröffnet gerade erinnernd eine Zukunft für alle Menschen – nicht nur für die versammelte Gemeinde. Wenn nun Erinnerung und damit Tradition immer mehr verloren zu gehen droht, bedroht das das Christentum im Ganzen – wenn auch auf eine zunächst subtile Art und Weise. Es ist eine schleichende Bedrohung, wie auch der Erinnerungsverlust ja kein spektakulärer, sondern ein schleichender Prozess ist. Schon Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts 41hat das Magazin „Time“, das jedes Jahr den Menschen des Jahres kürt, eine bahnbrechende Neuorientierung vorgenommen, indem es auf der Titelseite den Menschen des Jahres vorstellte, der aber gar kein Mensch war, sondern ein Roboter; der aber gespickt mit Elektronik das grundlegende Defizit des Menschen nicht mehr besitzt, der nämlich nichts erinnern kann, weil er gar nichts vergessen kann. Es ist eine Intelligenz ohne Geschichte, ohne Leidensfähigkeit – und ohne Moral.
Gegen diese kulturelle Amnesie setzt die jüdisch-christliche Tradition das Erinnern. Dabei ist natürlich wenigstens ganz grob eine Unterscheidung angezeigt. Es gibt wenigstens drei große Erinnerungskonzeptionen: die platonische Anamnesislehre, die eschatologische memoria des Christentums und die Synthese beider in der Hegelschen Philosophie.
Anamnesis ist im Grunde der Schlüsselbegriff der platonischen Philosophie: Sie wird für Platon dadurch fundamental, dass er sie als ermöglichenden Grund formeller „vernünftiger“ Erkenntnis überhaupt versteht, sie also als Konstitutionsproblem der Vernunft thematisiert. Erkenntnis ist eine Erkenntnis vorgewusster und insofern erinnerungsgeleiteter Wahrheit. Diese Position zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte: über Anselm von Canterbury bis zu Descartes und der bei ihnen formulierten eingeborenen Idee Gottes, bis hin zu Heideggers Erinnerung als Eintauchen in die vorgängige Wahrheit. Mit Kant gab es die erste grundlegende Irritation dieses Konzepts, indem er darauf hinwies, dass die Vernunft nie etwas anderes erkennen könne, als das der Vernunft Zugängliche, dass mithin ein Block zwischen der Möglichkeit immanenter und transzendenter Erkenntnis liege, was indes nicht bedeutet, dass damit Transzendenz geleugnet wäre.
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