Dabei ist auch ohne große Reflexion evident, dass der zweite Problemkreis wesentlich schwieriger zu bearbeiten ist als der erste. Es mag paradox erscheinen, aber gerade hinsichtlich der Multireligiosität ad intra sind wiederum Anfragen von jenseits des Christentums ein erster wichtiger Schritt, da in der Tat nicht mehr auf vorfindbares Wissen oder gar Erfahrungen bei einem großen Teil der betroffenen Subjekte zurückgegriffen werden kann. Wenn aber hier die Sprachlosigkeit herrscht, muss der Versuch gemacht werden, durch externe Anfragen an das Christentum so etwas wie einen apologetischen Impuls zu geben. Mag hier auch die Kirchenkritik naheliegen und die Sprachbarrieren ansatzweise zu überwinden helfen, so ist doch gleichwohl tiefer anzusetzen, um mithilfe der genuinen Religionskritik an wesentliche Anfragen an die jüdisch-christliche Tradition heranzukommen. Für viele ergibt sich dadurch die Möglichkeit, mit gleichsam bloß geborgten Argumenten eine erste Versprachlichung ihrer eigenen Fragen zu erreichen. Freilich gilt es hier eine Einschränkung zu machen: Die Zeit der großen Atheismen ist nämlich vorbei. Es waren z.B. für die Religionspädagogik geradezu noch paradiesische Zustände, als vor allem kritische Schülerinnen und Schüler auf der Basis der großen Atheismen in den Diskurs mit dem Christentum einstiegen. Davon kann heute keine Rede mehr sein.
Hinsichtlich der ersten Problemstellung, der Multireligiosität ad extra werden beispielsweise in der Religionspädagogik immer mehr Stimmen laut, der konfessionell gebundene Religionsunterricht sei zugunsten einer multireligiösen Orientierung im Sinne des religionskundlichen Unterrichtes aufzugeben und allen Religionen der gleiche Stellenwert einzuräumen. 33Ohne hier nun den strikt konfessionellen Religionsunterricht einfachhin zu verteidigen, sei jedoch wenigstens auf das Problem der Auflösung dieser Bindung – oder sagen wir hier: der Auflösung der christlichen Bindung – hingewiesen. Studien aus den Jahren 1998 und 1999 bezogen auf die britische Situation, in der diese Bindung schon längst nicht mehr vorhanden ist, zeichnen ein differenziertes Bild religionskundlichen Unterrichts. Es wird darin erstens gefragt, ob die säkulare Weltanschauung, die hinter diesem Modell sich verbirgt, die die Möglichkeit eines ideologiefreien Erkennens vorgebe, nicht selbst eine Ideologie sei, die darin bestehe, die Wahrheitsansprüche der Religionen faktisch zu relativieren; zweitens, ob hinter einer solchen Didaktik ein instrumentelles Verständnis von Bildung stecke, wonach die Schüler mit ihren eigenen Fragen gar nicht mehr vorkämen und insofern für die Vermittlung abstrakter Inhalte instrumentalisiert würden, drittens aber wird gefragt, ob eine Negierung der eigenen Traditionsvorgaben nicht einen hermeneutischen Rückschritt darstelle, so dass die Lehrenden selbst ihre Tradition vergessen müssten, damit ein adäquater religionskundlicher Unterricht möglich sei.
Die letzten Bemerkungen leiteten schon über zu der Frage, wie denn das Christentum selbst noch tradiert werden könne in einer Situation offensichtlicher Krise. Nun ist diese Krise keinesfalls neu. Sie hat zunächst ihre Basis und ihren Ausgangspunkt in der Aufklärung, die ja gründlich mit Tradition überhaupt aufgeräumt hat. Tradition verliert in der Aufklärung ihre Handlung bestimmende und Leben orientierende Kraft und wird Objekt historischer Erkenntnis und damit auch Arsenal für das Informations- und Nachrichtenbedürfnis der aufgeklärten Vernunft. Letztlich führt jedoch auch schon der Prozess der Historisierung von Tradition zu ihrer Entwichtigung.
Tradition – das sei hier auch nur angedeutet – lässt sich mit den Kategorien der Tauschgesellschaft nicht mehr vermitteln. Es ist die Gefahr des aufgeklärten Bürgertums, „alles, was nicht dem Kalkül der rechnenden Vernunft pariert und sich nicht den Gesetzen des Marktes, d.h. des Profits und des Erfolgs unterwirft, der privaten Beliebigkeit und Unverbindlichkeit des einzelnen zu überlassen. Wie er die Religion zur Service-Religion macht, an die er sich privat wendet, so macht der Bürger auch die Tradition zum Wert, dessen er sich privat bedient. – Kulturindustrie ist ein später Ausdruck für diesen Vorgang, der in der Aufklärung angelegt ist“ 34.
Wenn wir heute in einem praktisch-theologischen Kontext von Tradition und deren Krise sprechen, dann stecken die grundlegenden Veränderungen der Aufklärung noch darin, wenngleich in veränderter Form. War nämlich die Aufklärung noch um die Kritik an Tradition bemüht, so wäre heute diese Kritik – analog der Kritik der Religion – eine wichtige Basis der Auseinandersetzung. Die Krise der Tradition ist heute vielmehr begrifflich kaum noch fassbar. In ihr steckt zum einen der generelle Verlust an Bezugssystemen, in ihr steckt vor allem aber auch ein Grundzug postmoderner Mentalität, nämlich der Hang zum Vergessen, der allerdings noch einmal gleichsam schleichend sich zeigt, keinesfalls eine bewusste Entscheidung oder gar Strategie darstellt, sondern vielmehr den gesellschaftlichen und kulturellen Trends geschuldet ist. Erinnerung gibt es nämlich beinahe schon gar nicht mehr; ‚ich muss auch gar nicht mehr erinnern, ich habe doch einen Computer, der für mich nichts vergisst. Ich muss nur daran denken, rechtzeitig zu speichern.’
Zunächst aber soll der Befund der Enttraditionalisierung eingebunden werden in den postmodernistischen Individualisierungstrend.
„Die Individuen müssen“, so meint Ulrich Beck, „um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz. Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden. Die Folgen – Chancen wie Lasten – verlagern sich auf die Individuen, wobei diese freilich angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, vielfach kaum in der Lage sind, die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen.“ 35
Unter postmodernen Bedingungen hat also nunmehr die Biographie zu ersetzen, was einst die kollektiven Bindungen gewährleisteten. Diese aber waren noch einmal fundiert in mehr oder weniger stabilen Traditionen, die freilich nicht per se gut, hilfreich und unproblematisch waren, erst recht, wenn Tradition gleichsam traditionalistisch verstanden wird. Was aber neu ist an unserer Situation, das ist, dass die kulturellen Traditionen, die es zwar noch immer gibt, ihre unhinterfragten normativen Gehalte verlieren. Viele andere Wert- und Sinnsysteme erhalten nun die gleiche Dignität und das Individuum steht vor der schwierigen Aufgabe, aus der Vielfalt der Möglichkeiten entweder eine sich auszusuchen oder aber selbst einen neuen Mix herzustellen in Gestalt individueller Synkretismen, die gleichwohl ohne besondere Stringenz, vielmehr durch Lust gekennzeichnet sind.
Dass von dieser Entwicklung, also der Erosion der normativ-kulturellen Überlieferung, die traditionellen Religionen und Konfessionen in besonderer Weise getroffen sind, versteht sich von selbst. In weiten Teilen gelten sie schließlich als Wahrer der Tradition schlechthin. Dabei stimmt es natürlich, dass gerade die jungen Menschen dies nicht mehr so sehen und in der Tradition eher einen schlichten Traditionalismus vermuten, den sie freilich nicht so nennen würden und könnten. Auch greift es zu kurz, dies einfachhin der Säkularisierung anzulasten, in der die Religion sich nach und nach ihrer Plausibilitäten entledigt und damit überflüssig wird. Das Individualisierungstheorem hat hier zu einer differenzierteren Betrachtungsweise geführt, indem natürlich gesehen wird, dass die institutionalisierte Religion – also in unserem Kontext das Christentum – eine gravierende Depotenzierung erfahren hat, dass aber andererseits damit nicht ein Verlust von Religion an sich zu verzeichnen ist, dass vielmehr auch hier eine individualisierte Religion entstanden ist. Schon Ende der 60er Jahre hat der amerikanische Religionssoziologe Thomas Luckmann hier eine „unsichtbare Religion“ 36zu entdecken geglaubt. In einer empirischen Studie aus der Schweiz Anfang der 90er Jahre lassen sich diese Tendenzen nunmehr verifizieren. Alfred Dubach und Roland Campiche haben vier typische Ausprägungen zeitgenössischer Religiosität herausgestellt:
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