Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden darüber hinaus Nahrungsmittelimporte aus der ganzen Welt immer bedeutsamer. Besonders beim Obst spielten die Importe, insbesondere aus Übersee, eine grosse Rolle. 1977 stammten sogar schon bis zu zwei Drittel des verzehr ten Obsts aus dem Ausland. 133Mit der Zunahme der globalen Früchteversorgung, so stellt Wolfgang König fest, war aber eine Reduktion des heimischen Sortenangebots verbunden. In Deutschland zum Beispiel schrumpfte die Zahl der Apfelsorten im Lauf eines Jahrhunderts von rund 1000 auf gerade mal 10. 134Dieser Entwicklung wird seit einigen Jahren jedoch vermehrt wieder entgegengewirkt. Stiftungen und Labels wie ProSpecieRara haben sich zum Ziel gesetzt, traditionelle, lokale Sorten von Kulturpflanzen (und Nutztieren) vor dem Aussterben zu bewahren und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Aufwind erfahren sie unter anderem durch Partnerschaften mit Grossverteilern. 135
Auch beim Diskurs über die «richtige» Volksernährung ist in der Nachkriegszeit ein Richtungswechsel festzustellen. Wie in den USA wurden die Debatten nun nicht mehr primär von Ernährungsreformern und -wissenschaftlern geführt, sondern zunehmend auch durch die Industrie bestimmt. Ferner ist festzustellen, dass sich auch im deutschsprachigen Raum eine Veränderung des Sprachgebrauchs in Bezug auf unzureichende Ernährung bemerkbar macht. Statt von Unterernährung und Unterversorgung spricht man nun von Über- und Fehlernährung. 136Daraus lässt sich schliessen, dass nun, vor dem Hintergrund des Prosperitäts- und Überflusszeitalters, nicht mehr die Nahrungsmittelversorgung an sich als relevant erachtet wird, sondern vielmehr die Qualität und Ausgewogenheit der Ernährung. Anders ausgedrückt: Nicht mehr die Unterernährung aufgrund fehlender Nahrung wird jetzt als gesundheitliches Problem erkannt, sondern zunehmend auch die Über- und Fehlernährung. Albert Wirz bringt diesen Wandel auf den Punkt: «Die Wonnen des Wohlstands und die Sorgen des Masshaltens haben die Gefahren des Mangels abgelöst.» 137
Der kritische Diskurs über Ernährung und Überfluss setzte bereits kurz nach Kriegsende ein. Ausdrücke wie «Überfütterung», «Ernährungssünden», «zu gute Ernährung» sowie «falsche Ernährung» fanden Eingang in die ernährungswissenschaftliche Debatte. 138Neu am Diskurs über die Volksernährung war auch, dass er im Unterschied zu früher nicht mehr primär auf die Ernährungsweise bestimmter Gesellschaftsschichten (etwa der Unter- und Arbeiterschicht) ausgerichtet war, sondern sich an ein sehr viel breiteres Publikum richtete. Denn, so begründet Tanner, «die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit war eine Gesellschaft des kollektiven sozialen Aufstiegs». 139
Doch obwohl sich der wissenschaftliche Diskurs über die Risiken der Über- und Fehlernährung im Verlauf der 1950er-Jahre zu einem politischen und öffentlichen Diskurs ausdehnte, zeigte er insgesamt kaum Auswirkungen auf die Essgewohnheiten der Gesamtbevölkerung. 140Lag dies daran, dass die Notwendigkeit zur Veränderung der Essmuster angesichts der Abwesenheit von (bisher dominierenden Problemen) Hunger und existenzbedrohendem Mangel schlicht zu gering erschien? Oder hängt es damit zusammen, dass die Menschen die neu gewonnenen Konsummöglichkeiten nicht wieder aufgeben wollten? Womöglich liegen die Gründe irgendwo dazwischen.
Die beschriebene, neue internationale Verflechtung und die zunehmende (Ferien-)Mobilität der Bevölkerung brachten auch Globalisierung und Internationalisierung der Essgewohnheiten mit sich, die hierzulande zunächst insbesondere als «Amerikanisierung» empfunden wurden. Die USA, die bereits in der Zwischenkriegszeit zu einer Wohlstandsund Konsumgesellschaft heranwuchsen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer «Chiffre für die Moderne», die es nachzuahmen galt. Zudem witterten die Amerikaner auf dem europäischen Kontinent auch eine gewichtige Chance für die Absatzerweiterung, die durch den Marshallplan auch staatlich gefördert wurde. Beides führte dazu, dass sich die schweizerischen Essgewohnheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr dem amerikanischen Ernährungsstil annäherten.
Was sind amerikanische Essgewohnheiten?
Was sind überhaupt amerikanische Essgewohnheiten, und wodurch zeichnet sich ein amerikanischer Ernährungsstil aus? Diese Fragen sind zentral, wenn man über die Amerikanisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz schreibt. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass die Beantwortung von der Perspektive abhängt, die man einnimmt. Die Amerikanerinnen und Amerikaner beschreiben womöglich ganz andere Aspekte ihrer Ernährung als «amerikanisch», als wir dies aus einer europäischen Perspektive tun. Möglicherweise hat sich auch das Bild im Lauf der Zeit verändert. Was verstehen die Menschen im Jahr 1948 unter «amerikanischer Kost», was wird 1960 als typisch amerikanisch empfunden, und wie äussern sich die amerikanischen Besonderheiten heute? Schliesslich ist es bei der Analyse amerikanischer Essgewohnheiten auch wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass es «amerikanisch» an und für sich gar nicht gibt, sondern dass sich diese Eigenschaft aus unterschiedlichen regionalen, kulturellen, ethnischen Gewohnheiten und Besonderheiten zusammensetzt. Das Einwanderungsland USA zeichnet sich gerade in Bezug auf die Ernährung mitunter durch seine multikulturellen Einflüsse aus, die jedoch – und das ist faszinierend – auf irgendeine Art und Weise amerikanisiert und damit popularisiert und standardisiert werden. Ganz im Sinn von Peter Burkes Theorie der Transkulturation 141werden nach dem Motto «von allem das Beste» aus allen möglichen Herkunftsländern Gerichte und Zubereitungsarten aufgenommen, neu interpretiert und den eigenen Bedürfnissen angepasst. Albert Wirz erklärt diese Adaption anhand von Beispielen: «Aus den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer wird der Hamburger, aus der Pizza, einer kargen süditalienischen Armenspeise, die fetttriefende, amerikanische Pizza mit Tomaten, Wurst und fadenziehendem Käse – je mehr, desto besser –, und aus dem Pariser Croissant wird ein üppiges, fettes Sandwich.» 142
Abb. 5: «Weshalb es Hamburger heisst? Wahrscheinlich weil diese Spezialität in einem alten Meerhafen erfunden worden ist, wo man ja gern rassige Sachen hat», spekuliert ein Inserat der Thomi & Frank AG von 1955. Tatsächlich stammt der Hamburger von den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer ab und ist damit Sinnbild für eine ganze Reihe von amerikanischen Gerichten, die nach dem Prinzip «Von allem das Beste» die kulinarischen Einflüsse der verschiedenen Einwanderergruppen widerspiegeln.
Die Vereinheitlichung und Assimilation der Esskultur setzte, wie oben gezeigt, nach der Jahrhundertwende ein, angetrieben durch die aufstrebende Nahrungsmittelindustrie sowie durch das Aufkommen von Restaurant- und Ladenketten. Dieser Prozess wurde mitunter auch als «Druck» empfunden. Denn obwohl sich die USA als stolze Multikulti-Nation geben, so ist gleichzeitig zu beobachten, wie wichtig es ist, sich möglichst nicht von den anderen zu unterscheiden und sich möglichst rasch ins amerikanische Konzept einzufügen. Die amerikanischen Essgewohnheiten sind daher nicht als eine einheitliche, nationale Ernährungskultur zu sehen, sondern vielmehr als Schmelztiegel unterschiedlichster, von Kultur, Geschlecht, Alter, Klasse, Schicht und Lebensstilen abhängiger Gewohnheiten, die sich irgendwo zu einem gemeinsamen Nenner finden. Albert Wirz plädiert für den Begriff «salad bowl». Das Bild vom Schmelztiegel habe für die amerikanische Gesellschaft ausgedient, argumentiert er. Geht man jedoch, wie hier, von der Vorstellung aus, dass all jene ethnisch-kulturellen und regionalen Besonderheiten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, sprich neu interpretiert, an die eigenen Bedürfnisse angepasst und damit amerikanisiert werden, so passt die Metapher des Schmelztiegels recht gut. 143Und diesen gemeinsamen Nenner gilt es herauszukristallisieren, denn er wird von aussen – und möglicherweise auch von innen – als «amerikanisch» interpretiert. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass solche gemeinsamen Nenner oft auf Stereotypen beruhen, auf kollektiven, generalisierten und vereinfachten Vorstellungen, deren man sich bedient, um komplexe Sachverhalte oder Eigenschaften zu erklären und zu verstehen. 144Die vorliegende Studie interessiert sich für ebensolche Stereotype. Sie hat nicht zum Ziel, die «wahren» amerikanischen Essgewohnheiten zu untersuchen, sondern das Bild, das man sich in der Schweiz und auf dem europäischen Kontinent von der amerikanischen Esskultur machte. Denn diese kollektiven Vorstellungen bilden den Orientierungs- und Interpretationshorizont, an den sich die Menschen in der Nachkriegszeit hielten, wenn sie auf ihren Studienreisen durch Amerika nach neuen Ideen suchten, wenn sie ihrem amerikanischen Konsumleitbild folgten oder auch wenn sie die Amerikanisierung der Kultur, der Lebensweise und der Essgewohnheiten kritisierten.
Читать дальше