Mit dem Übergang von der Neueren zur modernen Ernährung beginnt auch das Zeitalter der zahlreichen Diäten, womit der dritte Punkt angesprochen ist, der zur Vereinheitlichung der amerikanischen Essgewohnheiten beigetragen hat. Hintergrund des Diätzeitalters ist ein bereits während der Neuen Ernährung einsetzendes Umdenken beim Verhältnis von Körpergewicht und Gesundheit, wozu nicht zuletzt auch Lydia Roberts beigetragen hat. Als die Wissenschaft zu Beginn der 1930er-Jahre erkannte, dass auch Fettleibigkeit und nicht bloss Unterernährung ein Gesundheitsrisiko darstellt, bekam Schlankheit eine völlig neue Bedeutung. Schlankheit war nun nicht mehr ein Zeichen von Armut und Mangel, und Korpulenz deutete nicht mehr auf Wohlstand hin, im Gegenteil. Die Ernährungsgewohnheiten der Wohlstands- und Konsumgesellschaft machten Wohlhabende schlank und Arme dick, weil sie zwar «nicht mehr zu hungern brauch[t]en, aber sich weiterhin schlecht ernähr[t]en». 95Das Zusammentreffen von Schlankheitsideal und Grosser Depression sei unter der Perspektive der traditionellen Vorstellungen von Körpergewicht und Überfluss und Mangel geradezu paradox, schreibt Briesen. 96Die Ober- und Mittelschicht, die ihren Wohlstand in dieser Krisenzeit eigentlich durch Körperfülle hätte darstellen können, interpretierte Übergewicht nun als ästhetisches und gesundheitliches Desaster. So entwickelten sich die 1930er- und Nach-1930er-Jahre zu einer Ära, in der die Mittel- und Oberschicht nicht mehr das ass, was sie gerne ass, sondern das, wovon sie dachte, dass es gut und gesund für sie sei. Dieser Trend, nicht zum Vergnügen, sondern für die Gesundheit zu essen, beruhe auf einer typisch amerikanischen Eigenschaft, nämlich der Angst, krank zu werden, zitiert Levenstein eine Stimme im Magazin Fortune von 1936. 97
Aufgrund dieses Mentalitätswandels wurden in der Folge alle möglichen Diäten populär, von Trennkost 98über die Hollywood eighteenday diet bis hin zu Diäten, bei denen jeweils zwei Lebensmittel kombiniert wurden, sogenannte Two-food diets. 99Ihnen allen gemeinsam war, dass sie «Fettverbrennung» und damit Schlankheit versprachen und auf einem bewussten Vermeiden von bestimmten Lebensmitteln oder Kombinationen von Lebensmitteln beruhten. Ein Beispiel einer Two- food-Diät lässt sich an der Zusammenarbeit zwischen der United Fruit Company und einem Wissenschaftler der renommierten John-Hopkins-Universität zeigen. Die in dieser Zusammenarbeit entwickelte Diät bestand aus Bananen und teilentrahmter Milch. 100
Einige der Diäten fussten auch auf der Vorstellung einer Art Pseudokrankheit, der Acidosis, die entsteht, wenn aufgrund einer falschen Ernährung der Säure-Basen-Haushalt des Körpers in Schieflage gerät und eine «Übersäuerung», so die sinngemässe Übersetzung von Acidosis, eintritt. Dies zeigte sich in der damaligen Vorstellung etwa daran, dass die Betroffenen ihre Vitalität verloren und anfällig wurden für verschiedene Symptome, darunter auch Fettleibigkeit. 101
Bei diesem neuen Verständnis einer gesunden Ernährung, bei dem es hauptsächlich um eine bewusste Reduktion der Lebensmittelvielfalt ging, wird auch deutlich, warum Harvey Levenstein im Unterschied zu Detlef Briesen die Phase der modernen Ernährung als Negative Nutrition bezeichnet. 102Diäten wurden in der amerikanischen Gesellschaft so populär, dass gar von einem «Zwang zur Diät» 103gesprochen werden kann, wobei die Diäten mitunter skurrile Formen annahmen. Selbstverständlich hatte auch die Industrie den neuen Trend erkannt – und gefördert. Unter der Ägide der Industrie und der Werbung wurden so selbst Kalorienbomben wie Traubensäfte und Süssigkeiten aufgrund ihrer Eigenschaft der schnellen Energie zu Diätspeisen. 104
Interessant bei diesen Diäten ist, dass sie vollkommen konträr zu eben noch geltenden und teilweise zeitgleichen Auffassungen über eine gesunde Ernährung erscheinen. Während in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts und nach der Entdeckung der Vitamine vermehrt auf eine ausgewogene Ernährung (mit Proteinen, Kohlenhydraten, Vitaminen) hingewiesen wurde und auch das Roberts-Committee bei seinen RDA ganze neun verschiedene Nahrungsbestandteile berücksichtigte, so konnten diese doch unmöglich mit nur zwei Lebensmitteln abgedeckt werden? Gesundheit und gesunde Ernährung wurde in diesem Kontext bald ausschliesslich mit Schlankheit gleichgesetzt, womit der oben angesprochene Bedeutungswandel von Körpergewicht nochmals eine Steigerung erlebte. Schlankheit galt im Vergleich zu Korpulenz nicht mehr nur als gesund, Schlankheit wurde im Kontext der Diäten gleichsam zum einzigen Kriterium für Gesundheit.
Während der Phase der modernen Ernährung können zusammengefasst drei Entwicklungen aufgeführt werden, die die Ernährung in den USA vereinheitlichten, standardisierten und «amerikanisierten»: Erstens war es der Siegeszug seriell hergestellter und landesweit verkaufter und vermarkteter Industrieprodukte, hauptsächlich in Form von Convenience food: Tiefkühlnahrung und Fertiggerichten. Zweitens ist es insbesondere auf staatliche Lenkungsmassnahmen zurückzuführen, dass sich landesweit eine einheitliche Vorstellung einer «gesunden» Ernährung etablierte, die massgeblich durch empfohlene Nährstoffmengen (RDA) und einen kollektiven Vitaminwahn gespeist wurde. Schliesslich etablierten sich auch durch zahlreiche Diäten neue regionen- und klassenübergreifende Ernährungsmuster – basierend auf einem durch die Ernährungswissenschaft geprägten neuen Verständnis von der Korrelation zwischen Körpergewicht und Gesundheit.
Kellogg erfindet das Frühstück neu
Eines der prominentesten Beispiele für die assimilierten amerikanischen Essgewohnheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Kellogg’s Cornflakes. Zunächst als «Lebensreformkost» amerikanischer Ausprägung entwickelt, 105werden sie nach der Jahrhundertwende zu einem erfolgreichen Massenprodukt, das – ähnlich wie die Konserve bei der Entstehung der Nahrungsmittelindustrie – zu einem «Konzentrat» der Neueren Ernährung wird und das Frühstück der Amerikaner komplett neu erfindet: Statt der traditionellen, gekochten Mahlzeit mit Oatmeal (Getreidebrei), gebratenem Speck und Brot setzen sich um die Jahrhundertwende zunehmend kalte Frühstückscerealien durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg erobert die «Cerealien-Kultur» schliesslich Europa – naturgemäss zuerst England –, wo sie in eine eigentliche «Frühstücks-Revolution» mündete. 106
Abb. 4: Kellogg’s Cornflakes – Lebensreformkost nach amerikanischer Art. Für die Schweiz wurden sie in den 1950er-Jahren von der Getreideflocken AG in Lenzburg unter Lizenz hergestellt, Plakat von 1974.
Die Geschichte von Cornflakes beginnt in den 1890er-Jahren in Battle Creek, einer Kleinstadt im Bundesstaat Michigan. In seinem ursprünglich als Kurhaus für die Mitglieder der Adventistischen Freikirche 107gegründeten «Sanitarium» experimentierte John Harvey Kellogg (1852 bis 1943) mit seinem Bruder Willliam Keith (1860–1951) mit neuen Nahrungsmittelkreationen, die zum Ziel hatten, die Verdauungsorgane vor der Überlastung zu schützen und so «Darmfäulnis» zu verhindern. So entstanden mehr oder weniger zufällig auch Cornflakes. 108John Harvey Kellogg war der Ansicht, dass jedes Lebensmittel seine eigene «Durchlaufzeit» im Verdauungssystem habe. Er war überzeugt, dass die Amerikaner nicht nur das Falsche assen, sondern auch viel zu viel und viel zu eilig. Daher propagierte er eine Art «taylorisierte Verdauung», die bereits beim Kochen und Kauen beginnt. Im Zentrum seiner Überlegungen stand eine Ernährung, die gesund und effizient sein sollte. Dies schlug sich auch in den Lebensmitteln nieder. In den Worten von Albert Wirz zeigte sich dies folgendermassen: «Allen Neuschöpfungen aus Battle Creek gemeinsam war, dass sie ‹vorverdaut›, haltbar, stets gleich in Zusammensetzung und Qualität und einfach zuzubereiten waren, ready to serve, kaum gekauft schon auf dem Tisch und, hopp, verschlungen.» 109Wichtig war dabei die «Vorverdauung», sprich eine verdauungsfreundliche Vorverarbeitung der Lebensmittel, die die Durchlaufzeit in Magen und Darm verkürzte und verhinderte, dass die Nahrung im Verdauungstrakt verfaulte. Die von Kellogg entwickelten Produkte enthielten deshalb hauptsächlich Getreide und Nüsse, woraus sich über 80 Neukreationen ergaben. Die bekanntesten sind Cornflakes und Erdnussbutter. Daneben gibt es zahlreiche weitere, die teilweise eigenartige, beinahe kindlich wirkende Fantasienamen trugen: Bromose, Nuttose, Noko, Koko – um nur wenige zu nennen. 110
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