Der phänomenologische Ansatz richtet das Augenmerk darauf, wie sich dem Subjekt ein Gegenstand der Erkenntnis anbietet. Der Erkenntnisgegenstand wird zum Erscheinenden, zum Phänomen. Damit wird begrifflich an die Erkenntnislehre Kants angeknüpft. Der Königsberger Philosoph hatte behauptet, man könne nicht die Dinge an sich erkennen, sondern nur die Art, wie sie sich zeigen: als Erscheinungen, Phänomene. Ihre Einordnung und Definition erfolgen in den Kategorien der menschlichen Vernunft, die diese je schon a priori bereithält. Im Noumenon, der verstandesmäßigen Einordnung des Phänomens, sind damit die Möglichkeiten der Erkenntnis ausgeschöpft.
Husserl setzt dieses Denken begrifflich fort und überwindet es. Seine Absicht ist es, einen Weg aufzuzeigen, auf dem es möglich ist, gegen Kant doch „zu den Sachen selbst“ zu gelangen – nicht im metaphysischen Verständnis, sondern gnoseologisch. Das bedeutet: Im Vorgang des Erkennens soll die Sache selbst gefunden werden. Die Untersuchung richtet sich daher nicht auf den Gegenstand als solchen, sondern es muss darum gehen herauszufinden, wie seine Präsentation im Bewusstsein vor sich geht, wie – und nicht: als was – er erscheint. Eine Erscheinung in diesem Sinne ist deshalb einerseits unabhängig vom Ich und von aller dinglichen Welt 33. Andererseits benötigt jedes Erscheinen und damit jedes Seiende als zwei Pole den Gegenstand und das Bewusstsein und kann als eine Art Struktur verstanden werden, die einen konkreten Gegenstand in das Bewusstsein des Subjekts hinein trägt. Was auch immer erscheint, hat sich unabhängig von seiner eigenen Qualität vor dem Bewusstsein auszuweisen, unabhängig davon, welchem konkreten Ich dieses Bewusstsein gehört 34.
Um diese Struktur in ihrer objektiven Gültigkeit zu erreichen, entwickelt Husserl, von der Mathematik her kommend 35, eine Methode, die ein Charakteristikum seiner Philosophie werden sollte: Es ist die Epoché, die Einklammerung. Dabei wird all das von der Betrachtung ausgenommen, was bezweifelt oder naturwissenschaftlich thetisch ausgedrückt werden kann und damit nicht streng zum reinen Vorgang des Bewusstseinaktes gehört 36. Darunter fallen alle Eigenschaften und sonstigen Gegebenheiten des Gegenstandes der Betrachtung auf der einen und des betrachtenden Subjekts, d. h. des konkreten Ich , auf der anderen Seite.
Husserl spricht dabei von „phänomenologischer Reduktion“ 37. Er beschreibt diesen Zusammenhang (wahrscheinlich im Jahre 1921) so:
„Ich urteile in der phänomenologischen Reduktion nicht über die Natur, über das identische Objektive , das mir in Erfahrung gegeben ist, sondern über die Erfahrung und ihre Zusammenhänge und das reine Bewusstsein überhaupt.“ 38
Dabei stellt Husserl incidenter klar, dass er die Natur als objektiv vorgegebene und gleich bleibende Wirklichkeit – er bezeichnet sie einmal als „im modernen Sinn ein Abstraktionsprodukt“ 39– nicht ablehnt und auch nicht in Zweifel zieht. Das unterscheidet seine Vorgehensweise von dem methodischen Zweifel des Descartes. Husserl enthält sich vielmehr jeglichen Urteils über sie, er blendet sie aus 40, indem er von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung übergeht :
„In der natürlichen Einstellung vollziehen wir schlechthin all die Akte, durch welche die Welt für uns da ist. Wir leben naiv im Wahrnehmen und Erfahren, in diesen thetischen Akten […] Naturwissenschaft treibend, v o l l z i e h e n wir erfahrungslogisch geordnete Denkakte […] In der phänomenologischen Einstellung u n t e r b i n d e n wir in prinzipieller Allgemeinheit den Vollzug aller solcher kogitativen Thesen […].“ 41
Der Phänomenologe ändert also in fundamentaler Weise seine Haltung allem gegenüber, was ihm in der Wahrnehmung begegnet 42. Gegenstand der phänomenologischen Untersuchung ist die Erfahrung, jedoch nicht verstanden als konkretes Ergebnis in Form eines erfahrenen Gegenstandes, sondern als Prozess des Erfahrens der Welt, den das Ich vollzieht, der also im Subjekt selbst stattfindet.
„Der Erfahrungsbegriff ist hier sicherlich ein anderer als derjenige, in dem in Geltungszusammenhängen von Begründung der Erkenntnis durch Erfahrung die Rede ist, wo Erfahrung ein Titel ist für theoretisch begründende, theoretischen Akten eine Rechtsunterlage gebende Akte (Ichakte wahrnehmenden Erfassens daseiender Gegenstände oder wiedererinnernden Erfassens etc.).“ 43Es geht dabei vielmehr um die Typik der Apperzeptionen, den auf Vorgegebenheiten aufbauenden Vorgang von Affektionen und Aktionen, die sich immer neu bildet und „für jeden eine andere ist“ 44.
1.1.1Phänomenologie der Intersubjektivität als Wegweiser zum Dialog
In der phänomenologischen Betrachtung gelangt das Ich , vermittelt durch die reine Struktur seiner Erlebnisse, zu sich selbst, zur Welt und zum Anderen .
1.1.1.1Die Intentionalität und die phänomenologische Konstitution der Welt
Die Welt und das Ich bilden einen Zusammenhang, der mit dem Begriff der Intentionalität beschrieben wird. Er äußert sich erstens darin, dass Bewusstsein immer „Bewusstsein von etwas“ 45ist. Darin wird die zweipolige Struktur der Intentionalität anschaulich, in der sich das Bewusstsein und damit das Subjekt, das Ego , in seinem Erkennen (Noesis) mit dem Gegenstand der Erkenntnis (Noema) verbindet. Die Akte, in denen sich Intentionalität realisiert, die auf der beschriebenen Struktur dahinströmen, nennt Husserl „Erlebnisse“. In ihnen zeigt sich die Struktur, in der sich dem Ich die dingliche Welt in den Phänomenen erschließt; das Erlebnis erweist sich damit als Gabe 46.
Der Schwerpunkt im husserlschen Denken liegt damit nicht so sehr auf einer Neuentdeckung des Ich als solchen, sondern darin, dass der Ausgang beim Erlebnis selbst gesucht wird, und vor allem dass dieses in seiner intentionalen Verortung aus zwei Komponenten besteht, nämlich einer „noetisch“ oder „intentional“ und einer „hyletisch“ oder „material“ genannten 47. Zweitens äußert die Intentionalität sich darin, dass Gegenstände in ihrem Erscheinen sich im Bewusstsein konstituieren. Es geht also in der Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen nicht nur um Erkenntnislehre, sondern um die Lehre vom Sein selbst: „Wieviel Schein, so viel Sein“ 48. Bloßes Erkennen würde nach seinem Gegenstand greifen. Diese Haltung der Bemächtigung im Denken ist bereits im Zusammenhang mit dem Umbruch des Denkens verworfen worden. Es ist vielmehr umgekehrt: In seinem Erscheinen greift der Gegenstand selbst nach dem Bewusstsein, vor dem er sich ausweist 49, dem er sich gibt und in dem er sich konstituiert. Das Erfahrene lässt also das Ego nicht unberührt, sondern bezieht es ein. Das bedeutet: Die zu erkennende Welt ist nicht ein gegenüber stehendes Außen, sondern gibt sich dem Ich hin und wird erst dadurch als Welt für mich eingeholt 50. Die gesamte Welt konstituiert sich also im Bewusstsein in dem Sinne, dass jeder erscheinende Gegenstand
„als solcher dem strömenden Bewusstsein kontinuierlich ‚immanent’, deskriptiv ‚in’ ihm [sc. ist], wie auch deskriptiv in ihm ist das ‚ein und dasselbe’. Dieses In-Bewusstsein ist ein völlig eigenartiges Darinsein, nämlich nicht Darinsein als reelles Bestandstück, sondern als intentionales, als erscheinendes Ideell-darin-Sein oder, was dasselbe besagt, Darin-Sein als sein immanenter ‚gegenständlicher Sinn’. Der Gegenstand des Bewusstseins in seiner Identität mit sich selbst während des strömenden Erlebens kommt nicht von außen her in dasselbe hinein, sondern liegt in ihm selbst als Sinn beschlossen, und das ist als intentionale Leistung der Bewusstseinssynthesis.“ 51
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