Matthias Sellmann
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pastoraltheologischer
Milieuforschung
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Meinen Kindern
Yannik, Katja und Wiebke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund (Foto: gettyone)
Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn ( www.hain-team.de)
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03517-4
Inhalt
‚Den Roman des Körpers schreiben‘ (Albert Camus) – Zu diesem Buch
Hinweise für die eilige Lektüre
Teil 1: ERÖFFNUNGEN. Grundlinien einer theologisch inspirierten Ethnologie
1 Die Entdeckung des Kontextes, oder: Eine Kirche auf der Höhe des Konzils ist auf der Höhe der Leute
2 Erster Angang: Gaudium et spes 44 und der neue pastoraltheologische Dreischritt
2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext
2.2 Gaudium et spes 44
2.3 Akkomodation: Die Methode von GS 44
2.4 Akkomodation als Anpassung?!
2.5 Akkomodation und Offenbarung
2.6 Akkomodation als pastoraltheologischer Dreischritt
3 Kurzes Fazit und Ausblick auf den weiteren Gedankengang
4 Zweiter Angang: Theologische Anthropologie
4.1 ‚Dasein als Vorgriff‘: Der Mensch als Wesen des Geheimnisses bei Karl Rahner
4.2 ‚Der bergende Grund‘: Der Mensch als das zu seinem Selbst erwachende Ich bei Wolfhart Pannenberg
4.3 ‚Die sich performativ ereignende Liebe‘: Der Mensch als unbedingte Freiheit bei Thomas Pröpper
5 Von der Anthropologie zur Ethnologie
5.1 Vier Arbeitshypothesen für eine ethnologische Weiterführung der theologischen Anthropologie
5.2 Von den Arbeitshypothesen zur soziologischen Milieuforschung
– ‚Dasein als Vorgriff‘ (Rahner) und ‚Dichte Beschreibung‘ (Geertz)
– ‚Bergender Grund‘ (Pannenberg) und ‚Soziale Gravitation‘ (Wippermann)
– ‚Liebende Anerkennung‘ (Pröpper) und ‚Fundamentale Semantik‘ (Schulze)
5.3 Von Teil I zum weiteren Vorgehen in Teil II
5.4 Zuletzt: Von einer Pastoral des ‚Erreichens‘ zu einer Pastoral des ‚Lernens‘
Teil 2: ENTDECKUNGEN. Die Lebenslogik sozialer Milieus als Lesehilfe des Glaubens
6 Kurze Lektürehinweise zu Teil II
7 Etablierte, oder: Leben im Horizont von ‚Rechtfertigung‘
8 Postmaterielle, oder: Leben im Horizont von ‚Befreiung‘
9 Benachteiligte, oder: Leben im Horizont von ‚Teurem Segen‘
10 Performer, oder: Leben im Horizont von ‚Berufung‘
11 Konservative, oder: Leben im Horizont von ‚Vorsehung‘
12 Hedonisten, oder: Leben im Horizont von ‚Prophetie‘
13 Bürgerliche Mitte, oder: Leben im Horizont von ‚Versöhnung‘
14 Expeditive, oder: Leben im Horizont von ‚Glauben‘
15 Traditionelle, oder: Leben im Horizont der ‚Treue Gottes‘
Schluss: Die große Sehnsucht unserer Zeit (Chiara Lubich)
Literaturverzeichnis
‚Den Roman des Körpers schreiben‘ (Albert Camus) – Zu diesem Buch
In seinem literarischen Essay ‚Die Wüste‘ denkt der bekannte französische Philosoph Albert Camus über das Verhältnis von Malerei und Abbildung nach. Und er formuliert den seltsamen Satz: „Die Maler haben das Vorrecht, auf ihre Weise den Roman des Körpers zu schreiben.“ 1Die Angewiesenheit auf den fixierten Moment, die fehlende räumliche Tiefe der Leinwand und die so leichte Möglichkeit, einem Bild durch einfache Blickwendung auszuweichen, belässt dieser Kunstform nur eine Chance: Die Maler „arbeiten in jenem herrlichen und vergänglichen Stoff, der ‚Gegenwart‘ heißt“. Es gibt hier nur Fläche, nur Abbild, nur Situation, nur Momentanes.
Weil das so ist, so Camus weiter, werden die Maler zum unschätzbaren Vorbild: Sie lehren uns wieder das Sehen. Sie führen uns wieder in die Technik ein, genauer auf die Gesichter der Menschen um uns herum zu achten: ihre Details, ihre kleinen Signale, ihre Selbstentwürfe, die gerade in ihrer Unbewusstheit so überaus sprechend sind. Denn „wir haben (…) verlernt, die wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung zu sehen. Wir sehen uns unsere Zeitgenossen nicht mehr an, sondern nur noch das an ihnen, was uns nützt und unser Verhalten bestimmt.“ Genauer: Wir ziehen dem Gesicht eine bestimmte Poesie vor, eine bestimme Idee, meistens eine, die den Anderen in unsere eigenen Kriterien einspannt. Wir bringen das Gesicht des Anderen auf unser Maß und in unser Kalkül.
Diese Gewohnheit ist ein Fehler. Sie ist die Negation der Gegenwart. Sie opfert den gegebenen Moment mit der Präsenz eines Menschen einer Idee, einem Urbild, einem Plan. Wer so mit Menschen umgeht und etwas in sie hineinliest, was sie von sich her gar nicht zeigen, fordert sozusagen mehr Sinn, als ihm die Welt, als ihm das einzelne Gesicht versprechen kann. Weil wir die reine Gegenwart nicht aushalten, wollen wir mehr in ihnen sehen, als da ist. Bekanntlich bildet dieses Unvermögen einfacher Gegenwart in Camus’ Philosophie des Absurden die Tragik des modernen Menschen, der sich die Schönheit der Gegenwart eintauscht gegen die Hoffnung auf Prinzipielles, Ideologisches, Metaphysisches – und darum verzweifeln muss. „Der abstoßendste Materialismus ist nicht etwa jener, den alle Welt so beurteilt, sondern vielmehr jener andere, der uns tote Ideen als lebende Wirklichkeiten einreden will und unser hartnäckiges, hellsichtiges Interesse an dem, was für immer mit uns sterben muss, ablenken will auf unfruchtbare Mythen.“ 2
So weit zu Camus und seinem Vorschlag, sich von der Malerei wieder lehren zu lassen, die flächenhafte Tiefenlosigkeit der Gegenwart auszuhalten. Zugegeben, dies ist ein ungewohnter Einstieg für ein theologisches Buch. Der Nobelpreisträger von 1957 ist definitiv kein Kirchenlehrer, und es würde ihn zornig machen, sähe er sich für religiöse Interessen instrumentalisiert. Hinzu kommt, dass theologische Forschung niemals jener Reduktion auf das Gegebene sekundieren könnte, die Camus’ Philosophie vorschlägt. Seinen Satz: „Die Welt ist schön, und außer ihr ist kein Heil“ 3würde man jüdisch-christlich anders formulieren. Denn das biblische Zeugnis lebt ja von der Verheißung, dass da ein Gott ist, der gerade nicht in der Immanenz der Welt aufgeht, sondern diese überhaupt erst stiftet.
Trotzdem liegt genau hier durchaus eine Berechtigung, ausgerechnet Albert Camus – neben anderen natürlich – als einen Impulsgeber für gute Pastoral aufzurufen. Denn er hat ja nicht nur oberflächlich mit seiner Beobachtung recht: Auch wir in der Pastoral stehen heute in dem Ruf, die ‚wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung nicht mehr zu sehen‘. Auch von uns sagt man, dass vor allem moralische Vorurteile und soziale Grenzziehungen aus der Kirche eine gesellschaftliche Gruppe gemacht haben, in der sich, wie auch sonst überall, Gleiche mit Gleichen treffen. Das Schema ‚Wir‘ und ‚Die‘ dominiert auch in unseren Gemeinden. Christen gelten im Allgemeinen als immer etwas ängstliche Kulturpessimisten, die in ihren Liedern, Ritualen und Kalendersprüchen eine heitere Gegenwartsorientierung aus dem Glauben zwar behaupten, faktisch in die Gesellschaft aber eine sorgenvolle Angst um sich selbst und um die Zukunft einbringen.
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