Diese Taktik macht es durchaus verständlich, dass man die beiden Textsorten auch äußerlich unterschied und für das Unwandelbare die Nichtfarbe Weiß, für das Wandelbare aber die Farbigkeit der Umschläge vorsah – die man dann auch noch später und kurzfristiger versandte. Trotzdem: Ein Unbehagen blieb bei den Protagonisten eines neu zu entwerfenden Formates namens ‚Pastoralkonstitution‘ zurück. Um es im Schema ‚Außen-Innen‘ zu reformulieren: Kann man denn Kirche wirklich so radikal getrennt von ihrem ‚Außen‘, also ‚der Welt‘ denken, dass sie sich zu deren Großproblemen nur unterhalb ihres höchsten Redeniveaus äußern kann? Hat denn Offenbarung wirklich nur überzeitliche Qualität? Kann lehramtliche Dogmatik sich nur so verstehen, dass sie von realer Menschheitsgeschichte im Kern nicht verändert werden kann? Haben kirchliche Texte keinerlei Autorität, wenn es um die konkreten Ortsbestimmungen des Menschseins geht – um Tod und Not, um Dramatik und Flucht, aber auch um Schönheit und Eleganz?
Diese Fragen brachen auf, als das anzuschlagende Niveau der Adnexa vom Konzilssekretär noch einmal auf das denkbar Niedrigste heruntergepegelt wurde: ‚mere privatum‘, mehr privater Natur seien diese Texte. Subjektive Meinungsäußerungen, ohne konziliares Gewicht. Der vehemente Protest gegen diese Qualifizierung vereinte Majorität und Minorität und führte in der Folge zu der gemeinsamen Einsicht, dass sich eine Trennung in dogmatischen Hauptteil und nicht-dogmatischen Anhang einfach verbietet. Sander kommentiert: „Damit war (…) die bisher verfolgte Darstellungsstrategie der ‚ecclesia ad extra‘ hinfällig geworden. Man war damit jedoch sprachlos geworden und musste eine neue Sprache sprechen lernen.“ 18
Es markiert die Größe des Konzils, dass man einer derartigen Verunsicherung trotz hochgespannter Außenerwartungen, innerer Fraktionsbildungen und allgemeinen Zeitdrucks nicht ausgewichen ist. Wie man heute weiß, wurde mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes eine solche ‚neue Sprache‘ wenn nicht gefunden, so doch in Anfängen gewagt. 19Wer diese Konstitution genau liest, wird überall die alte Zweiteilung in prinzipielle und auf Empirie bezogene Passagen bemerken. Am deutlichsten wird dieser Dualismus wohl in der bekannten Fußnote gleich zu Anfang des Textes. Hier wird betont, dass Gaudium et spes zwar aus zwei Teilen besteht, diese aber als Einheit anzusehen seien. Denn im ersten lehrhaften Teil fehle nicht die pastorale, im zweiten empirischen nicht die lehrhafte Absicht. Man sei sich klar darüber, dass man im zweiten empirischen Teil lehrhaft behandle, was „nicht nur aus bleibenden, sondern auch aus bedingten Elementen besteht.“ 20
Hier vollzieht sich Dogmengeschichte. Denn zum ersten Mal werden veränderliche Umstände als solche Gegenstand der obersten kirchlichen Lehrverkündigung. Wie deutlich den Konzilsvätern diese Neuheit vor Augen stand, mag der Hinweis zeigen, dass über diese Fußnote sogar eine eigene Abstimmung des ganzen Konzils erfolgte. 21Noch einmal Sander: „Diese Fußnote schließt die Entwicklung des Textes ab. Sie repräsentiert die Innen-Außen-Problematik und die Nicht-Ausschließungsstrategie der pastoralen Ortsbestimmung, die den Text nicht nur von Anfang an begleitet haben, sondern seine Genealogie bestimmen. Mit ihr werden Pastoral und Dogmatik in eine neue Beziehung gesetzt: Sie stehen in keiner Unterordnungs-, sondern in einer Innen-Außen-Konstellation und in keiner Darlegung von einem dieser Pole darf der jeweils andere ausgeschlossen werden. Das jeweilige Außen hat für das Innen konstitutiven Rang und in der Differenz zwischen beiden werden Ausschließungen ausdrücklich überschritten.“ 22
Mit anderen Worten: Man entdeckt, dass der geschichtliche Kontext theologischer Gottesrede und pastoraler Verkündigung nicht als eine Art Aufführungsmanege fungiert, sondern beide Sprachvorgänge von innen her verändern muss. Man muss aus dem gegebenen Kontext heraus erst erlernen, was man über die Gegenwart Gottes wissen und was man in den Kontext hinein verkünden kann. Wer Eselsbrücken mag – es gilt sozusagen das ‚Triple-Kon‘. Kon zil, das bedeutet: Der Kon text wird kon stitutiv.
Diese Entdeckung des Kontextes, diese kulturhermeneutische Wende kann als die Grundspur konziliarer Theologie überhaupt angesehen werden. Sie kommt begrifflich sicherlich am klarsten in Gaudium et spes zum Ausdruck, liegt aber als Ausrichtung und organisierendes Prinzip auch in den anderen Dokumenten vor. Pointiert kann man sagen: Die Kirche geht als predigende in das Konzil hinein – und kommt als zuhörende wieder heraus. Zumindest auf der programmatischen Ebene ist das so:
– ‚Dei Verbum‘, die Konstitution über die göttliche Offenbarung – und damit über das Herz der Theologie – wechselt vom Instruktions- zum Kommunikationsparadigma und entdeckt Gott als den Sich-Mitteilenden, der sich die Menschen und die Kirche als Freund wünscht, um in ein Gespräch zu kommen. Gott selbst als der Zuhörende!
– ‚Sacrosanctum concilium‘, die Liturgiekonstitution, akzentuiert, dass der Gottesdienst der Kirche ein dialogisches Geschehen zwischen dem Gottesgeist und den Gläubigen in ‚tätiger Teilnahme‘ darstellt – welch letztere wachsen kann, wenn der kulturelle Rahmen der Feier (Sprache, Riten, Besonderheiten des Ortes usw.) konstitutiv einbezogen wird. Kontextuelles Zuhören als Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrbarkeit der liturgischen Zeichen!
– ‚Lumen Gentium‘, die Konstitution über die Kirche, macht einen Unterschied zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, spricht vom Volk Gottes der Menschen und eröffnet damit den Weg, Kirche größer zu denken als in den Grenzen ihrer institutionellen Präsenz. Kulturelle Neugier wird zur Basiskompetenz einer Kirche als lernender Organisation!
– Die Erklärung ‚Nostra aetate‘ rät den Christen, sehr aufmerksam die heiligende Weisheit der je anderen Religionen wahrzunehmen. Religiöse Vielfalt als Chance zum Zuhören!
– ‚Ad Gentes‘, das Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche, fordert direkt dazu auf, dass „das christliche Leben (…) dem Charakter und der Eigenart jeder Kultur angepasst“ wird (AG 22). Zuhören als erster Schritt der Inkulturation!
– ‚Christus Dominus‘, das Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe, empfiehlt diesen dringend, Einrichtungen der pastoralsoziologischen Forschung einzurichten (CD 17, auch CD 16), damit sie überhaupt wissen können, in welchen Bedingungen die Gläubigen ihrer Diözesen leben. Kontextuelles Zuhören als Weiterbildungsmaßnahme der Funktionsträger!
Man könnte viele weitere Beispiele dafür bringen, dass eine kulturhermeneutische Offensive als Leitphilosophie des Konzils ansprechbar ist. 23Die Hauptprogrammatik aber liefert hierfür die Pastoralkonstitution, die den Platz der Kirche in der Welt identifiziert – und eben nicht ihr gegenüber oder gar höhergestellt –, die gottgefällige Autonomie der Kultur herausschält und die Verkündigung der Kirche sogar darauf verweist, sich und ihren Inhalt von den Leuten her neu zu erfassen. Zuhören, um überhaupt dazuzugehören!
All dies war auf dem Konzil überraschend und ist es seitdem wohl immer noch. 24Zu eingefräst sind die jahrhundertelangen Routinen einer Kirche als ‚societas perfecta‘, als vollkommene Gesellschaft, die den Leuten nur dann Heil zuspricht, wenn sie ins Innere der verfassten Kirche eintreten. Wer seine Umwelt so lange im Modus der Bringschuld modelliert hat; wer glaubte, vom sicheren Boden der Tradition alles um sich herum bewerten zu können; wer sich so lange als einzige sakramentale Heilsanstalt verstanden hat – der wechselt nicht mal eben in den Modus der Selbst(er) findung durch Kulturkontakt. Und sei es noch so sehr höchstlehramtliche Äußerung: Auch ein Konzil braucht Zeit – manche sagen: drei Generationen – bis es wirksam in Ausbildungsgänge, Rollen-Selbstbilder, Planungskennziffern und dogmatische Sprachstile eingesickert ist. Man ist nur ehrlich, wenn man sagt: Unsere gegenwärtige Kirchenpraxis ist noch um einiges davon entfernt, diesen umwälzenden Fortschritten der Konzilsdogmatik in den Alltagsroutinen zu entsprechen. Die Vision einer diakonischen Kirche, die sich eins macht mit ihrem je neu und örtlich unverwechselbar gegebenen Kontext und die ihre Botschaft durch diesen kenotischen Akt neu empfängt, um sie erst dann zu verkünden – diese Vision sucht weiter nach ihrer geschichtlichen Stunde. Nach wie vor hätte Camus recht, wenn er sein Diktum auf uns bezöge: Sie haben verlernt, die wirklichen Gesichter in ihrer Umgebung zu sehen. Sie suchen weiterhin vor allem nach dem, was sie schon zu kennen glauben.
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