„Für Deutschland entsteht damit der Eindruck eines weithin traditionalen, durch Immobilität, Überalterung und Konventionalität geprägten Gemeindeverhältnisses, in welchem die sozialen Bindungen wichtiger sind als das Leistungsniveau der kirchlichen Angebote.“ 4Zu diesem doch wenig schmeichelhaften Fazit kommt der Religionssoziologe Detlef Pollack als Ergebnis einer aktuellen empirischen Erhebung. Neugier, eine lernende Grundhaltung oder gar experimenteller, unternehmerischer Gründergeist prägen derzeit das binnenkirchliche Klima nur schwach. Ja es scheint derzeit nicht nur kommunikative Blockaden zwischen ‚denen von der Kirche‘ und den ‚Nichtkirchlichen‘ zu geben, sondern auch einen zwischen Christen und Christen – einen internen Zustimmungsvorbehalt innerhalb der Mitgliederschaft, wie man es pastoralsoziologisch nennt. 5Auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zieht man seine Poesie der einfachen Gegenwart vor, etwa indem man abscannt: „Will der mir was? Darf der mehr als ich? Nützt der mir was? Ist der ‚einer von uns‘? Ist das ein Modernist? Oder einer von gestern? usw.“
Zweifellos berührt die kritische Nachfrage bei Camus den sensiblen Punkt pastoraler Wirksamkeit überhaupt: Sind wir noch bei den Leuten – inner- wie außerkirchlich? Man wird sagen dürfen, dass in dieser Frage entschieden wird, ob wir unseren ‚Job‘ gut machen oder nicht, und dies ganz unabhängig davon, ob dies haupt-, neben- oder ehrenamtlich geschieht. Gute Pastoral fand schon immer ihren Adel, ihre Passion darin, in der konkreten Gegenwart von Menschen die konkrete Gegenwart Gottes zu versprechen, zu suchen, zu verkünden und zu feiern. Das wird man sagen können, ohne der Vielfalt pastoraltheologischer Selbstverständnisse Gewalt anzutun: Ganz egal, ob man Pastoraltheologie als ‚antwortendes Handeln‘, ‚Kulturwissenschaft des Volkes Gottes‘, ‚Problemlösungsdisziplin‘ oder wie auch immer konzipiert 6: Eine Grundbewegung ist dann pastoral, wenn sie den ‚Roman des Körpers‘ schreibt; wenn sie also das konkrete Leben von Männern, Frauen, Kindern, Familien, Lebensformen mit der Verheißung der Gegenwart Gottes zusammensehen und eines vom anderen her verstehen kann. Mit dem bekannten Wort Paul Michael Zulehners: Pastoral bedeutet, bei den Menschen einzutauchen und bei Gott aufzutauchen und umgekehrt.
Die Wechselseitigkeit dieser pastoraltheologischen Ellipse ist die zweite und philosophisch tiefere Entsprechung zu den Gedanken Camus’. Denn es entscheidet über pastorale Qualität, ob man Menschen als sie selbst in den Blick bekommt oder ob man sie doch nur als Anwendungsfall höherer (hier: theologischer) Prinzipien instrumentalisiert. Hier liegt ja die eigentliche Pointe des christlichen Theoriedesigns. Wer die Menschwerdung Gottes behauptet und gerade hierin die restfreie Selbstmitteilung dieses Gottes über und von sich selbst identifiziert, der muss dem Menschsein nichts hinzufügen, um zum (vermeintlich) Göttlichen zu gelangen. Die ganze Brisanz des christlichen Ernstes steht hier auf dem Spiel, welcher bis heute einen Existentialismus begründet, der vor allem für jene im religiösen System äußerst herausfordernd ist, die davon profitieren, dass man aus der Religion eine Sonderwelt macht, die dem ‚Weltlichen‘ noch hinzukommt. Nach neutestamentlichem Zeugnis wird der eschatologische Jesus die Seinen nur nach Maßgabe ihres Menschseins und eben nicht ihrer religiös-moralischen Kriterienerfüllungen identifizieren können (vgl. Mt 25,34–40: ‚Ihr habt mich besucht, gekleidet, ernährt‘ usw.). Vom evangelischen Theologen Eberhard Jüngel stammt das einprägsame Wort, dass die Unähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen nicht in einer Entzogenheit Gottes besteht, sondern darin, dass Gott in seiner Menschwerdung um so vieles menschlicher als der Mensch selbst geworden ist. Die Differenz zwischen Gott und Mensch ist unbestritten, unverfügbar und unaufhebbar. Aber trotzdem, trotz aller Unähnlichkeit, ist der Mensch bei sich, wenn er bei Gott ist, und bei Gott, wenn er bei sich ist. 7
Dieser Zusammenhang wäre systematisch-theologisch tiefer auszuloten. Und zuzugeben ist, dass Camus diese Gedanken nicht teilen würde. Trotzdem bekommt er ein zweites Mal recht. Nicht der Rückbezug auf den Mythos einer religiösen Idealformel macht den Charakter einer pastoralen Begegnung aus, sondern es ist gerade die Verheißung der göttlichen Menschwerdung, die es der Pastoral grundsätzlich erlaubt, im Anderen nicht mehr erwarten und unterstellen zu müssen, als in ihm selber angelegt ist. Keinem Gesicht muss welche Poesie auch immer vorgezogen werden. Kein Leben ist erst dann gut, wenn man es als Abziehbild einer religiösen Vorlage behandeln kann. Der pastorale Roman darf nicht nur, er muss über den Körper handeln. Pastoral ist das volle Ernstnehmen der menschlichen Gegenwart, gerade weil Gott selbst nicht mehr wollte als diese menschliche Gegenwart.
Bei Camus heißt es weiter: „Gegenwart aber stellt sich stets in einer Geste dar.“ 8Gute Pastoral wäre somit die Lektüre jener Gesten, mit denen ‚die Leute‘ ihre Gegenwart darstellen. Pastoraltheologie wird zur Gestenkunde. Ihre unverwechselbare Attitüde ist der unverbrüchliche Respekt vor jenen Signalen, mit denen Menschen ihre Behausung in ihrem Mikrokosmos anzeigen, ihre Lebensinterpretation, ihre kleinen und ihre großen Verhakungen in das Geflecht der Welt. Hans-Urs von Balthasar hat von der Theologie gefordert, diese Haltung als „Gestaltsehen“ 9einzuüben und die Fähigkeit hierzu sogar als das Typische der jüdisch-christlichen Religion markiert.
Für dieses ‚Gestaltsehen‘, diese ‚Gestenkunde‘ zu werben, sie zu begründen und sie exemplarisch auszuführen ist die Intention dieses Buches. Akteure in der Pastoral sollen inspiriert und befähigt werden, die biografischen Gesten ‚ihrer Leute‘ 10und ihrer Kultur zu lesen, zu deuten und als Daten theologischer Erkenntnis zu würdigen. Hierzu braucht es theologische Argumentation genauso wie sozialpsychologische Präzision. Zu beiden Diskursen will dieses Buch einen Beitrag leisten, indem die soziologische Milieutheorie von einer theologischen Hermeneutik her begründet und erschlossen wird. Dieses Denken in sozialen Milieus ist ja seit der sogenannten Sinus-Kirchenstudie von 2006 innerhalb der Gemeinden und Organisationen der christlichen Kirchen sehr bekannt geworden. 11Oft bleibt es aber bei der Erstrezeption. Nach wie vor fehlt es an einer substantiellen Einbindung des Anliegens einer ‚milieusensiblen Pastoral‘ sowohl in die relevanten kultursoziologischen wie in die systematisch-theologischen Diskurse.
Diese Vernetzung wird hier angegangen. Das Ziel ist die anfanghafte Entwicklung einer Art pastoraltheologischer Ethnologie. Mit ihrer Hilfe können die typischen Kollektivgesten der bundesrepublikanischen Bevölkerung erschlossen und verstanden werden. Man erkennt, dass es so etwas gibt wie ‚soziale Gravitationen‘, auf die hin ganze Kulturmuster sich rückbeziehen und die zum Leseschlüssel ihrer kollektiven Werthaltungen, Weltanschauungen und religiösen Orientierungen werden. Hier kommt es zu echten Verblüffungen: Plötzlich kann die Theorie sozialer Gravitationen scheinbar kleine alltagsästhetische Fragmente als Senkbleie ausweisen, die die Analyse in die Tiefe der Person hineinführen. 12Man entdeckt die Kohärenz von Alltagsverhalten und fundamentaler Semantik. Man durchmustert die Statements und Explorationen des Milieus, die Wohnungseinrichtungen, die Freizeitvorlieben, das Sprachverhalten, Konsum- und Partnerschaftsstile oder auch explizite Statements, etwa zur Frage nach dem Lebenssinn – und irgendwann taucht ein sprachlicher und inszenatorischer Assoziationszusammenhang auf, der sich auffällig durch die Einzelheiten durchträgt und rational mit der Gravitationslogik des Milieus in Einklang gebracht werden kann. Durch das scheinbar Banale und Nebensächliche stößt man auf eine innere „Richtungslinie“, eine innere Ader, die unzählige weitere Kapillare mit „Sinn und Stil“ versorgt, wie Simmel das nennt. Man kommt an eine sensible Stelle, an der man das Milieu ‚ticken‘ hört und ein Leitmotiv, eine Kurzformel über das so interpretierte Leben erfährt. Die hochindividuelle Gegenwart der Einzelgeste wird zum Ausdrucksmittel der sie grundierenden Selbst- und Weltinterpretation im sozialen Raum.
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