»Die Geschwindigkeit, mit der sich die Reichweite und der Differenziertheitsgrad des Lebensraumes ausdehnen, variiert während der Entwicklung beträchtlich.« (Lewin 1982b, S. 384)
Entwicklungspsychologisch relevant ist die Wirkung der Feldkräfte auch über längere Perioden des Lebens eines Individuums. So wirken sich Veränderungen in der Umwelt auf die gesamte Person aus und beeinflussen ihr weiteres Verhalten auf spätere Situationen im Lebensverlauf. Lewin fasst die transaktionale Wirkung von Feld und Individuum in seinem Konzept der »zirkulären Rückkoppelung zwischen Selbst und Umwelt« zusammen (Lewin 1982a, S. 208).
Neben der Entwicklung des Lebensraumes führt Lewin ein negatives Pendant ein, die Regression.
»Eine Veränderung des Lebensraumes als ganzen entgegen der Richtung, die für eine Entwicklung charakteristisch ist, nennt man Regression.« (Lewin 1982b, S. 386)
Sie ist gekennzeichnet von Entdifferenzierung, Desorganisation oder einer Abnahme der Zeitperspektive. Ursache können Krankheit, Frustration, Unsicherheit oder affektive Spannung sein (vgl. Lewin 1982b). Wie Koffk a bezieht sich Lewin in seinen Studien auf das Kindesalter. Mit dem Begriff der Regression öffnet er jedoch die Türe zur Entwicklungspsychologie der Lebensspanne.
»Der Übergang vom erwachsenen zum senilen Verhalten muß als Regression und nicht als progredierende Entwicklung verstanden werden.« (Lewin 1982c, S. 301)
Perls, Hefferline und Goodman – die Begründer der Gestalttherapie und ihre expliziten und impliziten entwicklungstheoretischen Überlegungen
Bei den Begründern der Gestalttherapie lassen sich grob zwei Motive von Entwicklungsgedanken herausarbeiten: Das Konzept des Hungertriebes und oralen Widerstandes. Und das Modell des Kontakts, der schöpferischen Anpassung und organismischen Selbstregulation. 4Beide Entwicklungstheorien wurden nicht explizit ausformuliert, sie sind eher fragmentarisch und implizit in ihren allgemeinen Theorien enthalten.
F. Perls grenzt sich in seinem erstmals 1947 veröffentlichten Buch »Das Ich, der Hunger und die Aggression« 5deutlich von der psychoanalytischen Triebtheorie ab. Er behält aber ein entwicklungspsychologisches Stufenmodell bei und diskutiert psychische Störungen im Erwachsenenalter mit kausalem Bezug auf Störungen und Widerstände in der Entwicklung der Nahrungsaufnahme. Der Hungertrieb wird in seinem Modell als Motor der Entwicklung konzeptualisiert. Im Kapitel »Geistig-seelischer Stoffwechsel« schreibt er:
»Die verschiedenen Entwicklungsstufen des Hungertriebes kann man als pränatale (vorgeburtliche), prädentale (Säuglings-), inzisorische (Beiß-) und molare (Beiß-und Kau-) Stufen klassifizieren.« (Perls 2007, S. 131)
Am Beispiel von Gier und Ungeduld erörtert er einen kausalen Zusammenhang mit der inzisorischen Stufe des Hungertriebes und möglichen Abwehrmechanismen (vgl. Perls 2007). Die Fähigkeit, etwas durchzuarbeiten, die Nahrung zu assimilieren, sei aufgrund oralen Widerstandes mangelhaft ausgebildet worden, wodurch diese Aggression sublimiert werden musste. Das bedeutet, wenn in dieser Phase Störungen und Hemmungen auftreten, dann kann dies in der weiteren Entwicklung zu neurotischen und psychotischen Symptomen führen (vgl. Perls 2007, S. 132). Demnach greift Perls mit seiner Theorie des »oralen Widerstands« in seiner Nosologie auf entwicklungspsychologisch begründete Abwehrmechanismen zurück.
Das zweite Entwicklungsmotiv, das überwiegend in dem 1951 veröff entlichten Standardwerk von Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman »Gestalttherapie« 6ausgearbeitet wurde, bezieht sich auf das Selbst, den Kontakt und die schöpferische Anpassung. Hier ist der Entwicklungsgedanke in die Theorie des Selbst und der schöpferischen Anpassung eingepflanzt, er wird »Wachstum« genannt.
»Die Kontaktgrenze (…) (ist) das Organ einer bestimmten Beziehung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Diese besondere Beziehung ist Wachstum (…).« (PHG 2006, S. 24) 7
Das Selbst wird hier nicht als unabhängige Entität beschrieben, sondern als Kontaktgeschehen. Dieses Kontaktgeschehen ist Wachstum per definitionem. Es ist ein Prozess, bei dem Entwicklung stattfindet.
»Als Aspekte des Selbst bei einer schlichten, spontanen Handlung entsprechen Ich, Es und Persönlichkeit den größeren Phasen der schöpferischen Anpassung: Das Es ist der vorhandene Hintergrund, der in seinen Möglichkeiten aufgelöst wird (…). Das Ich entspricht der fortschreitenden Identifizierung mit einigen und der Zurückweisung anderer Möglichkeiten (…). Die Persönlichkeit ist die geschaffene Figur, zu der das Selbst dann wird und die es in den Organismus assimiliert, wobei sie mit Ergebnissen vorherigen Wachstums vereint werden.« (PHG 2006, S.218 f.)
Während das Selbst als solches prozessual gedacht wird, entspricht die Persönlichkeit als Teil des Selbst am ehesten dem Element, welches einem strukturellen Wachstum gleicht. Mittels der Persönlichkeit, der geschaffenen Figur, können neue Erfahrungen mit bereits Gelerntem verglichen und integriert werden.
Der Motor der Entwicklung gleicht in diesem Ansatz einem Balanceakt, das organismische Gleichgewicht mittels Selbsterhaltung und Wachstum aufrecht zu erhalten.
»Selbsterhaltung und Wachsen sind Polaritäten, denn nur das, was sich erhält, kann auch durch Assimilation wachsen, und nur was kontinuierlich Neues assimiliert, kann sich erhalten, statt zu degenerieren. Die Stoffe und Energien für Wachstum sind also: der Versuch des Organismus zu bleiben, wie er ist; die neue Umwelt, die Zerstörung vorheriger partieller Gleichgewichtszustände und die Assimilation von etwas Neuem.« (PHG 2006, S. 211)
Weiterentwicklungen der gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie – Wheeler, McConville und Salonia
Werfen wir nun einen Blick darauf, wie die ursprünglichen explizit und implizit formulierten Entwicklungstheorien im Gestaltansatz weiterentwickelt wurden. Hier lassen sich zwei Strömungen feststellen. Einige Autoren machen es sich zur Aufgabe, eine gestalttherapeutische Entwicklungstheorie im engeren Sinne zu beschreiben. Sie beziehen sich hierbei auf die Theorien der Vordenker und Begründer des Gestaltansatzes. Andere Autoren suchen Anleihe bei anderen Theorieschulen und versuchen diese in den Gestaltansatz zu integrieren bzw. den Gestaltansatz diesen Theorien anzupassen. In dieser Arbeit wird der Untersuchungsradius aus ökonomischen Gründen auf gestalttherapeutische Weiterentwicklungen im engeren Sinne begrenzt. 8Drei Autoren aus dem USamerikanischen und italienischen Sprachraum setzen in ihren Entwicklungstheorien direkt bei den Begründern und Vorläufern des Gestaltansatzes an.
Mark McConville und Gordon Wheeler beziehen sich in ihren Büchern über die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter »The Heart of Development« (2001, 2002) auf das Lewinsche Konzept des sich entwickelnden Feldes.
In Anlehnung an Lewin, Koffka und die Begründer der Gestalttherapie formuliert Gordon Wheeler zwei Axiome, auf denen seine Entwicklungstheorie aufbaut:
1. Das Selbst ist im Feld
Anstelle des »kleinen Mannes in der Maschine« komme dem Selbst die Funktion zu, Erfahrungen an der Kontaktgrenze zu organisieren. Das Selbst ist dabei immer Teil des Feldes (vgl. Wheeler 2002, S. 46).
2. Das Selbst ist Akteur
Es gibt, so Wheeler, keine Wahrnehmung und Erfahrung ohne Bewertung und ohne höhere Organisation. Dem Selbst komme die Funktion zu, sinnvolle Ganzheiten zu bilden (vgl. Wheeler 2002). Wir können nicht »nicht Gestaltwahrnehmen«.
»Development, from this perspective, is the elaboration of successively more complex, more highly organized wholes of meaning.« (Wheeler 2002, S. 49)
Der Entwicklungsmotor, sinnvolle Gestalten, Ganzheiten, zu konstruieren, ist uns laut Wheeler genetisch mitgegeben. Entwicklungsprozesse werden in einem interpersonellen und intersubjektiven Feld organisiert. Die Feldperspektive führe dazu, dass Entwicklung immer Entwicklung des ganzen Feldes heißt. Die Umwelt, integraler Bestandteil des Entwicklungsprozesses des Kindes, muss sich demnach über die Zeit ebenso weiterentwickeln wie das Kind selbst (vgl. Wheeler 2002).
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