•Die soziale Stellung des Einzelnen sollte nicht mehr von Geburt an vorbestimmt sein. Vielmehr hatten die Menschen nun in zunehmendem Masse die Möglichkeit, sich mit Tüchtigkeit und Glück eine gesellschaftliche Position selber zu erarbeiten.
•Der Zusammenhalt der grossen gesellschaftlichen Kollektive bedurfte einer neuen Grundlage. Waren die alten Verhältnisse – gestützt durch die Autorität weltlicher Obrigkeit und der Kirche – weithin als gottgewollt hingenommen worden, bedurfte es zur Sicherstellung von Zusammenhalt und Gemeinsamkeit nun einer neuen Klammer, eines neuen ‹Bindemittels›.
Man kann sich vorstellen, dass der erwähnte Umbruch sowohl für den einzelnen Menschen als auch für kleinere Gemeinschaften und grössere Kollektive schwierig zu bewältigen war. Die alten Werte und Normen waren infrage gestellt und zum Teil beseitigt worden, das Neue war erst in Ansätzen erkennbar. Die Soziologie bezeichnet eine Situation dieser Art als kollektive Anomie und meint damit das Fehlen verlässlicher Normen, allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Hilfreich unter solchen Voraussetzungen waren zwei neue ideologische Konstrukte: die Nation und, damit zusammenhängend, das Volk. Überall in Europa entstanden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nationalistische Bewegungen, die den Rahmen der Gesellschaft nicht mehr allein über ein Territorium definieren wollten, das von einer politischen Obrigkeit als Hoheitsgebiet verwaltet wurde, sondern diesem Territorium den Nimbus einer ursprünglichen Gemeinschaft verliehen, die als auf ‹ethnischer› Zugehörigkeit beruhendes Volk imaginiert wurde – als eine «vorgestellte Gemeinschaft von Gleichen» (Anderson 1988).
Die Idee des Volkes stützte (und stützt sich zum Teil noch heute) in der Regel auf ein Gemenge von Komponenten, die überwiegend als ideologische Konstruktionen zu sehen sind. Obschon sie von Nation zu Nation mit unterschiedlichen Akzentsetzungen 14auftreten, lassen sich insgesamt doch die folgenden hervorheben:
•eine gemeinsame Sprache, die eine ‹natürliche› Zusammengehörigkeit derjenigen suggeriert, die diese Sprache sprechen;
•eine Reihe von – wie angenommen wird, allen gemeinsamen – Glaubensüberzeugungen;
•ein Gründungsmythos, der gleichsam den Punkt markieren soll, ‹an dem alles angefangen hat›;
•daran anschliessend eine gemeinsame, heroisierte Geschichte;
•die Vorstellung von einem Territorium, das ein Volk berechtigterweise beanspruchen kann;
•die Idee einer Art Blutsverwandtschaft all derer, die sich dem Volk zurechnen können.
Historische und sozialwissenschaftliche Erklärungen der Dynamik solcher nationalistischer Strömungen verweisen unter anderem auf die Bedeutung, die das Schulwesen für die Verbreitung entsprechender Ideen haben kann, und stellen beispielsweise Fächer wie Heimatkunde oder staatbürgerlichen Unterricht in diesen Zusammenhang.
«Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde deshalb in weiten Teilen Europas vermehrt über Nationalerziehung gesprochen. Diese Diskussionen wurden dadurch begünstigt, dass sich die Tendenz abzuzeichnen begann, anstehende gesellschaftliche und/oder politische Probleme durch Erziehung zu lösen.» (Horlacher 2011, S. 44)
Auch in den republikanischen Gebieten der damaligen Schweiz waren solche Gedanken alles andere als fremd, wie Tröhler (2011, S. 47) in seiner Darstellung der Gründung der Zürcher Kunstschule 1773 schreibt:
«Der Initiator der Zürcher Kunstschule von 1773 etwa, der Bürgermeister Hans Conrad Heidegger (1710–1778), hatte 1765 die Ansicht vertreten, dass die Schule als ‹eine Nationalanstalt› zu verstehen sei, ‹in welcher von der ersten Kindheit an und für alle Stände der Mensch sich zum nützlichen Mitglied des Staates› mit dem Zweck zu entwickeln habe, ‹an der Beförderung der Wohlfahrt des Vaterlandes arbeiten zu helfen›.» (Heidegger, zit. in: Nabholz 1938, S. 86)
Die zu dieser Zeit entstehende Auffassung von Erziehung als Beitrag zur nationalen Wohlfahrt und Entwicklung impliziert auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Stellung des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat, also mithin seines staatsbürgerlichen Status. Der englische Soziologe Thomas H. Marshall hat diese Entwicklung vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Das 18. Jahrhundert ist für ihn die Zeit, in der sich vor allem das «bürgerliche Element», das heisst die bürgerlichen Individualrechte ausbreiten: «Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschliessen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren» (Marshall 1992, S. 50). Darauf bauen ab dem 19. Jahrhundert die politischen Rechte auf: «Recht auf Teilnahme am Gebrauch politischer Macht, entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Körperschaft, oder als Wähler der Mitglieder einer derartigen Körperschaft» (a. a. O.). Im späten 19. Jahrhundert schliesslich kam die Entwicklung und Ausweitung des «sozialen Elements» in Gang: « […] vom Recht auf ein Mindestmass an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards» (a. a. O.).
In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist nun die Stellung, oder besser die ‹Karriere› der Bildung über die drei Phasen hinweg. Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei klar um ein soziales Recht, nämlich das Anrecht auf Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften der Gesellschaft, oder individuell gewendet das Recht auf Kultivierung der eigenen Person. Dies war indessen nicht die vorherrschende Sicht im 18. und 19. Jahrhundert. 15Damals erschien der Erwerb von Bildung noch als Voraussetzung für die Wahrnehmung zunächst der bürgerlichen Rechte wie etwa der Eigentums- und Vertragsrechte; und dann vor allem für die verantwortungsvolle und informierte Teilhabe an politischen Entscheidungen. Bildung wurde somit als Pflicht verstanden, der man sich zu unterziehen hatte, um – dies das darauf aufbauende Bürgerrecht – an der Gestaltung des Gemeinwesens teilzuhaben:
«Wenn der Staat allen Kindern eine Erziehung sicherstellen will, dann hat er dabei ausdrücklich die Voraussetzungen und das Wesen des Staatsbürgerstatus im Blick. Er versucht, die Entwicklung der werdenden Staatsbürger zu fördern. […] Grundsätzlich sollte es [das Recht auf Bildung, M. R.] nicht als das Recht des Kindes auf den Besuch der Schule gesehen werden, sondern als das Recht des erwachsenen Staatsbürgers, eine Erziehung genossen zu haben.» (Marshall 1992, S. 51)
Diese im Recht auf Bildung enthaltene Ambiguität zwischen Bildung als Voraussetzung und Bildung als sozialer Wert an sich lebt in den Institutionen der öffentlichen Bildung bis auf den heutigen Tag weiter. Der Auffassung von Bildung als einem selbstverständlichen, universellen Menschenrecht steht in Gestalt der obligatorischen Schule noch immer die Institutionalisierung von Bildung als einer Verpflichtung gegenüber.
Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels ist indessen auf zwei Aspekte hinzuweisen, die in dieser Diskussion eher im Hintergrund geblieben sind: Wenn es eine Form gibt, der «vorgestellten Gemeinschaft von Gleichen» bereits im frühen Kindesalter symbolisch Ausdruck zu verleihen, so eignen sich dazu wenige Dinge so gut wie die für alle geltende Teilnahme an einer Institution, die sich spezifisch mit Kindern und Jugendlichen befasst (zur Legitimationsfunktion von Bildung vgl. Kapitel 3). So gesehen darf man die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die im 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas vollzogen wurde, durchaus als eine Erscheinung verstehen, die in engstem Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Nationen und mit dem damit verbundenen Nationalismus steht.
Читать дальше