Niemand würde uns hier finden. Es hätte schon eines kriminalpolizeilichen Einsatzes wie in CSI: Miami gebraucht, um uns hier aufzuspüren. Die Schlampigkeit des Richters machte mir jetzt Hoffnung. Wenn die Polizei auch so arbeitete, dann konnte uns nicht viel passieren. Doch trotz dieser vermeintlichen Sicherheit war an Ruhe nicht zu denken. Durch die Hitzewelle, die gerade über das ganze Land hereinbrach, wärmte sich unser Zimmer schon am Vormittag extrem auf. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Auch Sofia war unruhig. Ihr war ständig heiß.
»Mama, es ist Hochsommer«, sagte sie. »Ich will hinaus.«
»Der Fernseher hier ist viel toller als unserer«, sagte ich.
»Du willst doch nicht, dass ich so viel fernsehe.«
Wie schlampig die Behörden auch immer arbeiten mochten, es war zu gefährlich für uns, hinauszugehen. Wenn uns jemand sah, würde die Nachricht rasch die Runde machen, dass wir hier waren. Hätte ich damals, als ich mich mit den Medien eingelassen hatte, die weitere Entwicklung der Dinge abgesehen, hätte ich aber wahrscheinlich trotzdem nicht auf ihre Unterstützung verzichtet.
Ich hatte noch immer das Gefühl, dass uns haarsträubende Ungerechtigkeit widerfuhr, und dass es im Prinzip gut war, möglichst viele Menschen darüber zu informieren. Denn so trivial die Welt der Medien auch sein mochte, so sehr folgte sie im Grunde doch einer menschlicheren Logik als die Behörden. Die Medien mochten sich in den voyeuristischen Aspekt eines Falles hineinsteigern, in dem einer Mutter ihre süße kleine Tochter weggenommen wird, und was aus der Mutter und der süßen kleinen Tochter wurde, mochte den Redakteuren und ihren Chefs egal sein. Doch den Menschen, die auf diese Art unser Schicksal miterlebten, war es nicht egal. Sie mussten verstehen, dass es nicht gut war, was hier geschah, dass es nicht richtig war. Vielleicht war ich naiv, aber ich hoffte, dass das die Behörden früher oder später unter Druck bringen würde.
Die Konsequenz davon war jedenfalls, dass wir jetzt nicht hinaus konnten. Ich stellte mich darauf ein, hier in dieser heißen Wohnung noch einige Zeit auszuharren. Den ganzen Tag lang befasste ich mich damit, Sofia bei Laune zu halten, trotzdem konnte ich den Kopf nicht frei bekommen. Da waren diese bohrenden Fragen, die mich in dieser Dachwohnung des Miethauses immer wieder heimsuchten. Warum Sofia? Warum ich? Warum wir?
Unser erster Tag im Versteck war der 23. Juli, der Tag vor der geplanten behördlichen Abholung von Sofia. Er ging nur langsam vorüber. Minuten waren wie Stunden, Stunden fühlten sich wie Tage an. Inmitten der Ängste vor der Zukunft und meiner Erinnerungen an die Vergangenheit holte mich abends ein Anruf aus meiner Lethargie. Ich zögerte, weil ich die Nummer nicht kannte. Ich wusste genau, wem ich die Nummer gegeben hatte, und jeden von ihnen hätte ich an der ihren sofort erkannt. Als ich schließlich trotzdem den grünen Knopf drückte, und die Stimme am anderen Ende erkannte, war ich erleichtert. Karoline. Seit mehr als drei Jahren war sie eine meiner besten Freundinnen. Nachdem sie einige Zeitungsberichte über unseren Fall gelesen hatte, hatte sie mich auf Facebook angeschrieben, und mit der Zeit war unser Kontakt enger geworden.
»Ich wollte dir nur noch viel Glück wünschen«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, wie das ist.«
»Ich weiß«, sagte ich.
Karoline ist eine Leidensgenossin. Eigentlich hatte sie noch Schlimmeres durchgemacht als ich. Ihr Mann, ein Spanier, hatte sie geschlagen. Zwei Jahre lang hatte sie mit ihrer Tochter in einem Frauenhaus gelebt, nachdem sie von ihm losgekommen war. Weil er sie auch nach der Scheidung nicht in Ruhe gelassen hatte, war sie nach Österreich ausgewandert. Auch sie war von einem Gericht im Heimatland ihres Exmannes wegen Kindesentführung schuldig gesprochen worden, und jetzt kämpfte sie von Österreich aus um ihre Tochter.
Karoline hatte gerade eine Verhandlung hinter sich, und das war auch der eigentliche Grund für ihren Anruf. »Am Ende nahm mich der Richter beiseite«, erzählte sie. »Er vertraute mir an, dass er sich erst kürzlich mit einem befreundeten Kollegen aus Wiener Neustadt über einen ähnlichen Fall beraten hatte.«
Ich hatte erwartet, mich mit irgendeiner staubigen juristischen Facette ihrer Verhandlung befassen zu müssen, für die ich doch keine Aufmerksamkeit aufbringen würde. Doch jetzt schreckte ich auf. Wiener Neustadt? Das Wiener Neustädter Gericht war für mich zuständig. Dort saß der Richter, der Sofia für eine Schülerin gehalten hatte. »Weiter«, sagte ich zu Karoline, die eine Pause eingelegt hatte, wohl damit ich mir der Tragweite ihrer Nachricht bewusst wurde.
»Mein Richter meinte, dass in Wiener Neustadt gerade ein Prozess über eine Kindesrückführung nach Italien anhängig sei«, sagte sie. »Und jetzt kommt es, aber freu dich bitte nicht zu früh. Der Richter aus Wiener Neustadt hat meinem Richter angeblich gesagt, dass er die Kindesabholung jetzt doch nicht vollstrecken will, weil ihm nun ein neues Gutachten vorliegt.«
Meine Stimme überschlug sich. »Aber das muss mein Fall sein«, sagte ich.
»Das glaube ich auch«, sagte Karoline. »Wie viele Verhandlungen mit Italien wird es in Wiener Neustadt wohl geben?«
Hoffnung keimte in mir auf. Ich sah zu Sofia und obwohl sie beschäftigt tat, wusste ich genau, dass sie lauschte. Hatte es sich der Richter vielleicht wirklich anders überlegt? Ich hatte zuletzt zu viele schlechte Nachrichten bekommen, als dass ich so einfach an eine gute glauben konnte. Lag da vielleicht eine Verwechslung vor? Hatte Karoline etwas aus einer Bemerkung ihres Richters herausgehört, das er gar nicht gemeint hatte? Einfach, weil es für mich eine so gute Nachricht gewesen wäre? »Was meinst du mit ›freu dich nicht zu früh‹?«, fragte ich.
»Ach, nur so«, sagte Karoline. »Damit du dann nicht enttäuscht bist. Hast du eine Ahnung, von welchem Gutachten da die Rede sein könnte?«
Natürlich hatte ich das. Ich hatte sofort gewusst, wovon die Rede war. Vor wenigen Wochen hatte ich einen Sachverständigen beauftragt, Sofias seelischen Zustand zu prüfen. Der Psychologe und Psychotherapeut hatte ein langes Gespräch mit ihr geführt und dann ein Gutachten erstellt. Dieses Gutachten war einer der Gründe dafür gewesen, weshalb ich unsere Flucht als unausweichlich betrachtet hatte. »Mit der unter den gegebenen Rahmenbedingungen unvorbereiteten Übergabe des Kindes an den Kindesvater bzw. der zwangsweisen Abnahme kommt es kurzfristig zu einer schweren akuten Belastungsreaktion der Minderjährigen«, schrieb er darin. »Dabei tritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein gemischtes, ungewöhnlich wechselndes Bild auf. Mit einem anfänglichen Zustand von ›Betäubung‹ entwickeln sich depressive Symptome, Ängste, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug, vergleichbar mit einem psychischen Schock, […] sodass sich nicht selten im späteren Lebensalter ab zehntem, elftem oder zwölftem Lebensjahr suizidale Ideen einstellen oder die Minderjährige überhaupt zu einem Suizidversuch oder sogar Suizid provoziert wird. […] Ohne langsame und behutsame, über Monate hinweg vorbereitete Kontaktaufnahme des Kindesvaters mit seiner Tochter wäre die Übergabe der Minderjährigen an den Kindesvater für sie mit einer Naturkatastrophe, einer Geiselhaft oder einer Gefangenschaft vergleichbar, die unweigerlich zu einer schweren psychischen Beeinträchtigung und Traumatisierung führen würde.«
Mir war als ihre Mutter selbst klar genug gewesen, was die Übergabe Sofias an ihren Vater für sie bedeuten würde, doch die Ausführungen des Experten hatten mir Sofias Situation noch einmal eindringlich und in aller Härte vor Augen geführt.
»Wenn der Richter das Gutachten auch nur einigermaßen ernst nimmt, kann er gar nicht anders, als Sofia bei dir zu lassen«, sagte Karoline, nachdem ich ihr von dem Gutachten erzählt hatte.
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