Nur ein paar Wochen zuvor, an einem Dienstag im Mai, war es so richtig losgegangen. Draußen zwitscherten die Vögel, und ich war eigentlich gut gelaunt, als ich hinaus zum Briefkasten ging. Sekunden später verdunkelte sich meine Welt. »Der Mutter wird aufgetragen, das Kind bis 7. 7. 2013, 19.00 Uhr, an den Vater zu übergeben«, stand in dem behördlichen Schriftstück, das ich aus dem Postkasten gefischt hatte. »Es bleibt der Mutter überlassen, ob sie innerhalb dieser Frist das Kind dem Vater in Italien übergibt oder ob sie dem Vater einen Termin innerhalb dieser Frist bekannt gibt, an dem er das Kind in Österreich abholt.«
Es waren nur diese vier Zeilen. Das Brutale war die Sprache. Dieses Amtsdeutsch, mit dem Beamte zu verdrängen schienen, dass sie mit ihren Nachrichten Glück zerstören und Hoffnung rauben konnten. Dazu diese Genauigkeit, als wäre der Staat nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat, dafür, seine Vorschriften zu erfüllen. Sogar die Uhrzeit war angeführt, zu der ich mein denkbar schlimmstes Unglück erleben sollte. 7. 7. 2013, 19 Uhr.
Auf diesen Tag hatte sich das Gericht geeinigt, weil der in Österreich zuständige Richter in Wiener Neustadt zu dem Schluss gekommen war, Sofia solle das Schuljahr noch in Ruhe in ihrer Heimat abschließen. Dass Sofia zwar schon sechs Jahre alt war, aber noch gar nicht zur Schule ging, hatte der Richter offenbar übersehen. So viel Aufmerksamkeit schien er für die Angelegenheit nicht übrig gehabt zu haben. Eine Mutter. Eine Tochter. Was soll’s. Vielleicht ist er hungrig gewesen und wollte in die Mittagspause, dachte ich, vielleicht war Freitag gewesen, und er wollte schon ins Wochenende aufbrechen.
Nur wenige Tage danach musste ich dann den nächsten Rückschlag hinnehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – bis dahin für mich unsere allerletzte Chance auf eine glückliche Zukunft mit Sofia – lehnte meinen Antrag ab. Ich war an diesem Tag körperlich und seelisch am Ende. Ich schluchzte mehrere Stunden lang ununterbrochen.
Aber das genügte nicht, es kam noch eine schlechte Nachricht. Dieses Mal trug der Absender eine italienische Adresse. Nachdem mich Raffaele wegen Kindesentführung angezeigt hatte, verurteilte mich ein italienisches Gericht nach jahrelangem juristischem Kampf zu 15 Monaten Haft. Es war wie ein Tritt in die Magengrube. 15 Monate unbedingt. Dazu sollte ich Raffaele 40 000 Euro Schmerzensgeld zahlen und seine Anwaltskosten in Höhe von 6.500 Euro ersetzen.
Die Haftstrafe sollte in eine bedingte umgewandelt werden, wenn ich dem Vater innerhalb eines Jahres nach Rechtskräftigkeit des Urteils die 40 000 Euro bezahlen würde. Wenn ich Sofia bei mir behielte, würde das als zweite Kindesentführung gelten, wofür ich dann zu bis zu drei Jahren Haft verurteilt werden könnte. Diese drei Jahre würden aber an die 15 Monate angehängt werden, weil die Straftat diesmal nicht in Italien, sondern in Österreich verortet wäre.
Wenige Minuten, nachdem ich die E-Mail aus Italien gelesen hatte, machte mein Kreislauf schlapp. Ich kippte in unserem Wohnzimmer einfach um und blieb benommen am Boden liegen. Raimund eilte zu mir und brachte mir ein Glas Wasser. »Ich rufe einen Arzt«, sagte er.
Auch Sofia kam zu mir. »Mama, was ist los?«, fragte sie. »Bist du gestürzt?«
»Alles ist gut«, sagte ich, doch der 7. Juli rückte näher und näher. Sofia kampflos Raffaele zu überlassen, hätte ich niemals mit meinem Gewissen vereinbaren können. So viel stand schon damals fest. Sofia kannte ihren leiblichen Vater gar nicht, der im Übrigen trotz des Gutachtens darüber, dass ihr Wohl von der zwangsweisen Rückführung gefährdet werden könnte, keinen Abstand davon nehmen wollte. Ich hatte auch nie den Eindruck gehabt, dass es ihm um Nähe zu seiner Tochter ging. Ich hatte ihn mehrmals eingeladen, sie in Österreich zu besuchen, aber er hatte kein nennenswertes Interesse daran gezeigt. Wenn es ihm nicht um Nähe ging, dann wohl um Besitz, vermutete ich. Dazu kam, dass sie kein Wort Italienisch sprach. Was sollte sie also in Vittorio Veneto? Die Entscheidung, sie zwangsweise dorthin zu schicken, war die dümmste, die Beamte nur fällen konnten. Was immer sich Österreich und Italien da ausgedacht hatten, diese Entscheidung widersprach jedem gesunden Menschenverstand und jeder emotionalen Logik. Ich hatte noch keinen einzigen Menschen getroffen, der sie auch nur im Ansatz verstand, es sei denn durch eine Haltung der Obrigkeitshörigkeit, die alles als gleichsam gottgegeben akzeptierte, was auf einem behördlichen Schriftstück stand.
Doch ich war nie der Typ für diese Haltung. Staaten und Bürokratien hatten schon immer schreckliche Fehler gemacht, auch wenn sie im hübschen Kleid der modernen westlichen Demokratien daherkamen. Sie machten nach wie vor Fehler und sie würden auch in Zukunft welche machen. Wenn sie das taten, dann war es nicht nur das Recht eines Staatsbürgers, sich dagegen zu wehren, es war sogar seine Pflicht. Davon war ich überzeugt.
Der 7. Juli war ein Sonntag, an dem die Hitze Österreich fest im Griff hatte. Raimund und ich waren mit den Kindern viel draußen und kühlten uns im Berndorfer Freibad ab. Nichts geschah. Die Welt drehte sich einfach weiter. Denn wir hatten eine Aufschiebung der Vollstreckung wegen akuter Kindeswohlgefährdung beantragt und damit vorerst Erfolg gehabt. Der Richter wollte dazu Raffaele hören und ihm die Möglichkeit einräumen, aufgrund der vorhersehbaren Schäden für seine Tochter von der zwangsweisen Rückführung abzusehen.
Von weiteren Befragungen war nun aber keine Rede mehr. Jetzt sollte die Sprache der Gewalt gesprochen werden. Am 24. Juli sollte Sofia von Gerichtsvollziehern und der Polizei endgültig abgeholt werden. Raimund klappte den Laptop zu. Instinktiv stand ich auf und schloss die Fenster, wie um zu verhindern, dass jemand mithören konnte, was wir gleich besprechen würden.
Raimund sah mir fest in die Augen. »Doris«, sagte er, »die einzige Chance, die wir jetzt noch haben, ist unterzutauchen.«
Als ich nach dem Wasserglas griff, war meine Hand ganz ruhig.
Meine kleinen Bären.
Eure Teddybären wissen genau bescheid, sie werden es euch flüstern.
Für euch sind mir Krallen gewachsen auf den kräftigen Pratzen.
Für euch habe ich spitze Zähne im Maul.
Wenn ich mich auf die Hinterbeine stelle,
bin ich drei Meter groß für euch.
Und in der Abendsonne ist mein Schatten zwanzig Meter lang.
Jeder Jäger fürchtet sich vor mir.
Wir sagten Sofia nichts von ihrer drohenden Abschiebung, doch ich bemerkte, wie auch sie zunehmend unruhig wurde. Sofia war damals schon ein kluges, sensibles Mädchen. Sie schien das Unausgesprochene mit ihren kindlichen Sinnen wahrzunehmen, ohne es aber in Worte fassen zu können. Sie spürte die Kluft zwischen dem Schein, den ich für sie aufrechterhielt, und meiner emotionalen Wirklichkeit, und das machte sie aggressiv. In Momenten, in denen sie früher diskutiert oder nachgefragt hätte, schrie sie. Auch mit ihrer Zuneigung zu ihrem kleinen Halbbruder Philip schien es in dieser Phase vorbei zu sein. Statt ihn wie sonst immer liebevoll zu umsorgen und mit ihm zu spielen, brüllte sie ihn einfach an, oder versteckte sich in ihrem Zimmer.
Mein Plan stand fest. Unterzutauchen war die einzige Lösung. Es war mir egal, dass ich dabei die Grenzen der Legalität überschreiten würde, und Raimund war es auch egal. Für uns beide waren die Kinder immer das Wichtigste gewesen. Alles andere war Nebensache. Da durfte uns auch kein Gerichtsbeschluss in die Quere kommen, schon gar nicht der eines Richters, der sich offensichtlich nur sehr oberflächlich mit dem Fall befasst hatte. Sofia musste das Recht haben, bei uns zu bleiben, bei mir, Raimund und ihrem Halbbruder Philip, den sie doch immer zärtlich geliebt hatte.
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