Das konnte nun wirklich nicht alles sein. Es war aber alles, was die Psychiatrie, wie ich sie damals kennenlernte, dazu hergab.
Das ist nun vierzig Jahre her. Auch die Psychiatrie ist heute eine andere, und zur Eheberatung gehen heutige Menschen zum Psychotherapeuten. Die grundsätzliche und schwerwiegende Frage aber bleibt: Warum zerbrechen so viele Beziehungen? Und warum scheint es immer schneller zu gehen? Festzustellen ist in der Beratungspraxis heute aber auch: Längst nicht alle aus Partnerschaften gefallene oder ausgestiegene PatientInnen fühlten sich verlassen, einsam und beladen.
Die Spielregeln des Lebens
Wenn auf Erden die Liebe herrschte, wären alle Gesetze zu entbehren .
ARISTOTELES
Die Spielregeln des Lebens ergeben sich für mich aus drei Schicksalsgesetzen und zwölf Lebensprinzipien . Beginnen wir mit den Schicksalsgesetzen.
Partnerschaft beginnt heute in der Regel mit beglückender Verliebtheit, einer Phase der Exaltiertheit, gemäß dem berühmten Satz Hermann Hesses: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.« Das entspricht dem drittwichtigsten der Schicksalsgesetze, welches besagt, schon im Anfang liege alles, so wie im Samen der Baum.
Früher nahmen auch noch in unserer eigenen Kultur die Eltern auf Eheschließungen großen Einfluss. So nach dem Motto: Wir haben ein Baugeschäft und die haben ein Baugeschäft, also baut etwas Schönes miteinander (auf). Damit folgten alle dem zweitwichtigsten der Schicksalsgesetze, dem der Resonanz. Im Anfang der Verbindung lag da meist kein übermäßiges Glück, dafür erwies sich das langfristige Konzept als Bürge für Haltbarkeit und Dauer und zumeist auch ein nicht so herbes Ende. Im Idealfall ist die heute so hoch geschätzte Resonanz-Phase eine wundervolle Zeit, die beide genießen, wenn sie dieselben Gedanken denken, dasselbe Essen mögen und sich am Selben und aneinander freuen. Im Stehen stoßen sie an, ohne anstößig zu sein, im Sitzen genießen sie das gemeinsame Mahl, bei dem sie sich schon nacheinander verzehren, was sie in der Horizontale dann vollenden oder auch nicht. Sobald diese Phase vorbei ist, etwa weil er gleich und sie gar nicht kommt oder sich eine anstrengende horizontale Bastelei ergibt, geben insbesondere die Jungen heute oft gleich wieder auf.
Wo die Resonanz sich aber wundervoll fügt, sie miteinander schwingen und entschweben in gemeinsame Glücks- und sogar orgiastische Einheitsgefühle, liegt eine genussreiche, aber begrenzte Zeit vor ihnen. Nicht wenige deuten sie als höchste Zeit zur Hoch Zeit und trauen sich vor den Trau altar. Das aber ist eine Rechnung, die sie ohne das erste Schicksalsgeset z gemacht haben.
Dieses erste und wichtigste Gesetz, das der Polarität, entfaltet seine Wirksamkeit, sobald der Hormonrausch der Resonanz-Phase vorüber ist und der Alltag mit seiner Routine einkehrt. Dann erleben die beiden, wie sie sich gegenseitig ihre jeweiligen Schatten(seiten) zu spiegeln beginnen. Die allermeisten stürzen jetzt in die Konflikte der Schattenprojektion ab. Was mit himmlischen Orgasmen und/ oder mit Anrufung himmlischer Kräfte Himmel-hoch-jauchzend vor dem Trau-Altar begann, endet häufig – in unseren Großstädten schon zu 80 Prozent – zu Tode betrübt vor dem Scheidungsrichter. Anschließend sind beide allein, oder einer ist es, ganz selten aber keiner, weil beide schon heimlich oder offen für Ersatz (vor-)gesorgt haben. Nun zu den Solisten des Lebens.
Das neudeutsche »Single« gehört inzwischen zum selbstverständlichen Sprachgebrauch, der herkömmliche Begriff »alleinstehend« dagegen nur noch ins Personenstandsregister. Gut so. Ihm haftet seit je etwas Defizitäres an. »Allein stehen« zu können ist dabei doch alles andere als ein Defizit, und das ist nicht nur zeitgemäß, sondern auch wesenhaft so. Solisten in der Kunst des Lebens genießen in Bezug auf alle drei Schicksalsgesetze sogar einige Startvorteile auf dem Weg zu nachhaltigem Glück.
>Allererst so in Bezug auf das Gesetz der Polarität. Sie müssen davon ausgehen, dass auftretende Probleme ausschließlich mit ihnen selbst zu tun haben, denn da ist schlicht kein Partner, auf den sie projizieren könnten: Sie sind sich selbst und nur sich selbst immer und ausnahmslos verantwortlich. Es wird davon zu reden sein, welche Herausforderungen das mit sich bringt.
>Auch beim Resonanz- oder Spiegelgesetz sind sie – rein prinzipiell gedacht – im Vorteil. Sie können sicher sein, dass ihre Schwachstellen nicht vom Partner ausgeglichen werden. Wer niemanden hat, der seine Schwächen kompensiert, muss sie allerdings auch selbst sehen können und allein bearbeiten, um sich in puncto Lebensqualität letztlich nichts vorzumachen.
>Das Gesetz des Anfangs offeriert in unserer entwickelten, offenen Gesellschaft, die sich – bis zum Corona-Koma – die Freiheit des Individuums auf die Fahnen geschrieben hatte, für fast jede Art von Alleingang nachgerade verführerische Möglichkeiten. Ob als Chance oder Falle, hängt davon ab, welche inneren und äußeren Voraussetzungen der einzelne Mensch mitbringt und welche Vorstellungen von seinem Glück er sich gönnt.
Allein-Sein ist nicht Einsamkeit
Einsamkeit ist das Vermissen des Anderen. Allein-Sein ist das Finden von sich selbst .
OSHO
Fragst du vielleicht: »Glücklich mit mir selbst, nur ganz für mich allein – ist das nicht egoistisch?« Oder, anders herum: »So ganz für mich allein – bin ich dann nicht schrecklich einsam?«
Einsamkeit ist ein Gefühl von Mangel, das mit Leid verbunden ist. Wer sich einsam fühlt, dem fehlt etwas. Schon diese Feststellung rückt Einsamkeit in die Nähe von Krankheit. Ist doch »Was fehlt ihnen?« die klassische Eröffnungsfrage der Ärzte. Wenn ich einsam bin, fühle ich mich ganz auf mich allein zurückgeworfen. Das Gefühl der Überforderung begleitet mich sogar unausgesprochen, es steht im Raum wie der sprichwörtliche Elefant.
Einsamkeit ist kränkend und kann auch körperlich krank machen, zumal wenn sie mit Gefühlen des Ausgeliefertseins einhergeht und wie ein Gespenst im kleinsten Zeitraum lauert, der ohne Ablenkung ist. Umfragen haben ergeben, dass die Hälfte der Deutschen Angst davor hat, im Alter zu vereinsamen. Vor allem Frauen, und sie haben guten Grund dafür, bleiben sie doch weit häufiger allein übrig, quasi als gesellschaftlicher Restposten. Angst aber kann erst recht erkranken lassen, wie auch die Kollateralschäden der Angstverbreitung in Zeiten der Pandemie gezeigt haben. Hinter der Angst vor Einsamkeit steckt auch häufig die vor Ablehnung. Je mehr man sich abgelehnt fühlt, umso williger lehnt man sich auch selbst ab: ein Teufelskreis, der wiederum die Abhängigkeit von Lob und Anerkennung fördert. Selbstliebe und Selbstachtung, dann bereits geschwächt, bleiben schließlich ganz auf der Strecke. All das zeigt: Einsamkeit ist nicht etwa ein isoliertes Gefühl, sondern steht im Zusammenhang mit Angst, enttäuschten Hoffnungen und unerfüllter Sehnsucht.
Es ist durchaus gerechtfertigt, chronifizierte Einsamkeit als Krankheitsbild zu sehen, das falsche Vorstellungen von der Realität hervorruft. Die Einsamkeit nimmt dann gleichsam die Rolle einer ständigen Lebensbegleiterin an. Der Ausstieg ist infolgedessen schwieriger als aus einem akuten Geschehen, aber sehr wohl möglich, wie sich zeigen wird.
Allein-Sein will dagegen schon vom Wort her etwas ganz anderes sagen, nämlich Alles-in-einem zu sein. So verstanden, ist Allein-Sein ein existenzieller Zustand, das heißt natürlich gegeben und nicht künstlich hervorgebracht. Allein-Sein ist seinem innersten Wesen nach ein Glückszustand, ist deutlichst gefühlte Gewissheit meiner Allverbundenheit. Allein-Sein in diesem Sinne kann es, mit Krishnamurti gesprochen, »erst geben, wenn die Einsamkeit aufgehört hat«. Ein einziger, bewusst gewählter Moment kann reichen, um wieder zu sich zu kommen, seine Gedanken zu ordnen und sich zu sammeln, Abstand von einer problematischen Situation zu gewinnen. Um das eigene Leben zum Besseren zu wenden, geht es darum, sich Qualitätszeit zu nehmen für absichtsvolles Innehalten, um den inneren Halt wiederzufinden.
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