Seit er sich in St. Petersburg erfolgreich etabliert hat, sehnt sich Schliemann nach jenem Gefühl zurück: in Zweisamkeit von der banalen Realität entrückt zu sein. Und inmitten der vielen positiven Veränderungen – Geld, abenteuerliche Reisen, Sprachen, Gönner und Bewunderer, Vierzimmerwohnung samt persönlichem Diener – spürt er eine Lücke in seinem Leben. Ihm fehlt eine treue Wegbegleiterin, und für diesen Platz konnte er nur Minna in Betracht ziehen. So sendete Schliemann über einen gemeinsamen Freund einen Heiratsantrag an seine Kindheitsfreundin. Doch es war zu spät: Minna hatte vor Kurzem einen zwanzig Jahre älteren Gutspächter geheiratet.
Seit er davon erfahren hat, muss er in jeder freien Minute daran denken. Ihm fallen fast vergessene Situationen aus seiner Kindheit in allen Details wieder ein, als ob sich ein schwerer verstaubter Vorhang von seiner Erinnerung gehoben hat. Da waren nicht nur die Abenteuer mit Minna, bei denen sie sich auf die Jagd nach Zeugnissen der Vergangenheit begaben, sondern auch die vielen Pläne, die sie für die Zukunft geschmiedet hatten: eine gemeinsame Zukunft. Einige Zeit macht ihn der Gedanke an die verpasste Gelegenheit unkonzentriert und krank. Dann fängt er an, die Stunden, in denen das Geschäft geschlossen ist, in denen die Handelspartner sich längst im Kreise ihrer Familien befinden und der Großstadtlärm endlich verebbt ist, mit noch mehr Ablenkungen zu füllen. Dazu gehört vor allem Korrespondenz. Allein im Jahr 1847, als er vergeblich um Minnas Hand angehalten hat, schreibt er mehr als sechshundert Briefe an Geschäftspartner, Freunde und Bekannte und an seine Verwandten in Mecklenburg. Während er den Schwestern schon kurz nach der Ankunft in Amsterdam geschrieben hatte, meldet er sich jetzt auch regelmäßig beim Vater sowie den beiden jüngeren Brüdern und erkundigt sich nach deren Ergehen. In St. Petersburg ist Schliemann über die Lebenssituation von nahezu allen Mitgliedern seines engsten Familienkreises informiert.
Seinen Schwestern Wilhelmine, Dorothea, Elise und Louise, allesamt noch unverheiratet und bei verschiedenen Verwandten untergekommen, sendet er bei Bedarf Geld. Seinem ein Jahr jüngeren Bruder Ludwig hat er zu einer Anstellung in Amsterdam verholfen, kurz bevor er selbst Amsterdam verließ und nach St. Petersburg zog. Ludwig geriet schon bald mit seinen Arbeitgebern in Streit über das Gehalt und fand durch Vermittlung von Schröder & Co. eine Anstellung in einem anderen Handelshaus. Ludwigs Briefe, in denen er es schafft, seinen älteren Bruder zu bitten, seine Beziehungen für Ludwigs Karriere spielen zu lassen, und ihm dabei gleichzeitig altkluge berufliche Ratschläge zu erteilen, empfindet Heinrich zwar als lästig, lässt sich davon aber nicht weiter beirren. Ludwig hat er noch nie viel zugetraut. Die berufliche Zukunft seines jüngeren Bruders Paul macht ihm hingegen tatsächlich Sorgen. Paul, der erst wenige Wochen alt war, als ihre leibliche Mutter starb, ist sechzehn Jahre alt und lebt beim Vater und dessen neuer Familie.
Der Weg, Pauls Schicksal zu beeinflussen, führt nur über Ernst Schliemann. Heinrich versucht zunächst, seinen Vater davon zu überzeugen, dass eine kaufmännische Lehre in Amsterdam eine gute Möglichkeit für Paul wäre. Er würde seinem kleinen Bruder den Aufenthalt finanzieren. Sein Vater reagiert erst zwei Monate später und nach mehrmaliger Aufforderung auf seinen Vorschlag: Paul habe eigenständig entschieden, dass er lieber in der Landwirtschaft tätig sein wolle – und er würde ihm da auch gar nicht reinreden wollen. Paul traue sich das Erlernen von Sprachen und das kaufmännische Rechnen eben nicht zu. Heinrich ist nicht weiter überrascht über die ablehnende Reaktion seines Vaters. Er kennt es schon aus anderen Situationen: Weder will der Vater Geld von Heinrich annehmen, noch die Zeitungen lesen, die Heinrich extra für ihn abonniert hat. Er schickt ihm trotzdem weiterhin Geld und bezahlt ihm Zeitungen. Ebensowenig lässt er von seinem Plan ab, Pauls Schicksal in eine vernünftige Richtung zu lenken – in möglichst großer Distanz zum Wohnort von Ernst Schliemann. Dessen zweite Frau, die zwischenzeitlich zu einem anderen Mann gezogen war, ist wieder zurückgekehrt. Laut dem Vater verhält sie sich unberechenbar und aggressiv, rennt durch das Haus und zerschlägt Gegenstände, droht überall mit Brandstiftung und Mord. Durch dieses unberechenbare und aggressive Verhalten könnte sie ihn, so befürchtet Ernst Schliemann, sogar in einen zweiten Skandal hineinziehen.
Heinrich will Paul so schnell wie möglich aus diesen Zuständen retten, auch seine Schwestern sind entsetzt. Dorothea fasst es in einem Brief so zusammen:
»Ach mein Heinrich warum sind unsere Verhältnisse auch so schrecklich – daß wir lieber das väterliche Haus meiden und unser Brod unter fremden Leuten essen und uns verdingen als zu Hause zu sein, wie gerne möchte ich bleiben wenn es möglich wäre, aber die Verhältnisse sind nun einmal so und nicht anders!«
Während sich Schliemann über die familiäre Situation in Mecklenburg und Amsterdam auf dem Laufenden hält, geht es für ihn selbst weiterhin aufwärts, zumindest beruflich. Er hat ein eigenes Handelshaus gegründet und macht seine Geschäfte für Schröder & Co. fortan auf eigene Rechnung. Zugleich kommt ihm die Idee, Paul gar nicht erst nach Amsterdam zu schicken, sondern lieber direkt zu sich nach St. Petersburg zu holen. Seine Pläne stoßen weiterhin auf wenig Enthusiasmus. Irgendwann erhält er von Paul persönlich eine Antwort: Er könne sich einfach nicht dazu entschließen, seine Tage »in dem rauhen, barbarischen Rußland« zu verbringen. Diese Formulierung möge er ihm bitte nicht übelnehmen.
Heinrich lässt einige Tage vergehen. Dann überkommt ihn die Stimmung, wieder einmal über sein eigenes Leben zu sinnieren und diese Gedanken seinem Vater mitzuteilen. Zufrieden sei er derzeit nicht, aber das Glück liege ja auch nicht in den sechstausend Talern, die er 1847 verdiente, oder in den zehntausend Talern, die er in diesem Jahr erwarte. Es liege auch nicht in seiner prächtigen Wohnung, in köstlichen Speisen oder im guten Wein. Eigentlich fühle er sich weit weniger glücklich, als damals hinter dem Tisch des Krämerladens in Fürstenberg. Über den Vater bedankt er sich indirekt bei seinem Bruder für die Zeilen, lässt aber auch sein Bedauern über Pauls unsinnige Vorurteile gegenüber Russland ausrichten – einem Land, das dem Ausland dreihundert Jahre voraus sei. Schliemann schätzt sich glücklich, mittlerweile russischer Staatsbürger zu sein: »Unser Kaiser liebt sein Volk wie seine Kinder.«
Heinrich überlegt zum Schluss, ob er auf des Vaters erneute Bitte im letzten Brief eingehen soll, nun doch endlich das Abonnement für verschiedene Hamburger Zeitungen abzubestellen. Er entschließt sich, es zu ignorieren. Was auch immer seinem Vater daran missfällt, von seinem Sohn unterstützt zu werden, es kümmert Schliemann nicht.
Während Heinrich sich über Pauls undankbare Zurückweisung aufregt, nervt ihn zugleich die Aufdringlichkeit seines anderen Bruders. Ludwig würde nur zu gerne zu ihm nach St. Petersburg kommen, da er schon wieder arbeitslos ist. Eine Begründung für die plötzliche Kündigung habe er von seinem Arbeitgeber nicht erhalten. Heinrich will ihn nicht zu sich holen, da er ihn für überheblich und selbstherrlich hält. Erst, wenn er Russisch beherrsche, könne er Heinrich nützlich sein, und das würde bei seinem geringen Talent ja wohl noch an die vier Jahre dauern. Was Ludwig aber wirklich verletzt, ist Heinrichs Angebot, ihm fünfhundert Taler vorzuschießen, wenn er nach Mecklenburg zurückkehren und dort ein Geschäft eröffnen würde. Beleidigt antwortet Ludwig, dass er nur gefesselt oder als Leiche nach Mecklenburg zurückgebracht werden könnte, und dass er künftig kein Geld mehr von dem älteren Bruder annehmen werde.
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