Allerdings war auch sie nicht froh über Ines’ Einzug bei mir. Und ich selbst hatte mich an mich gewöhnt. Meinem Haushalt gegenüber meine höchst eigenen Toleranzschwellen entwickelt. Und nun wieder Kompromisse? Debatten? Hast du eingekauft, und wenn nein, warum nicht? Vielleicht weil mir manchmal die Leere im Kühlschrank egal ist, weil nämlich der Dönermann gegenüber Döner hat.
Ade Freiheit, aber den Gedanken, jeden Tag ein kleines oder großes Gespräch mit meiner Tochter haben zu können, zu erfahren, wie es ihr ging, was sie beschäftigte, ihre liebevoll solidarische Anteilnahme an meinem Tun und Treiben, den Gedanken mochte ich.
Ich hatte nach meinem ersten reflexartigen Nein und meiner reuigen Umkehr beschlossen, das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit Karin zu akzeptieren. Wie immer es auch ausfallen würde.
»Klar war Mama erst mal dagegen. Aber ich habe einfach im Moment so viel in der Stadt zu tun. Uni morgens und am Nachmittag. Dazwischen lohnt es sich nicht, heimzufahren. Und Jan will ja auch was von mir haben.«
»Prima Argumente! Vor allem das mit der Uni!«
»Was gibt’s da zu grinsen, Paps?«
Mein Bauch hatte ihren Ellenbogen vermisst. Da war er wieder!
»Hast du ihr auch den anderen Grund erzählt, dass du es mit ihrem Lebensgefährten Herbert nicht mehr aushältst?«
»Nein, das weiß sie.«
»Und wann soll es über die Bühne gehen?«
»Morgen. Du brauchst dich nicht zu kümmern. Jan und ein Freund von ihm helfen, und ich hab nicht viele Sachen.«
Der Kaffee war durch. Wir setzten uns in die Küche.
»Sag mal, was hältst du eigentlich von dieser Susan Maiwald?«, fragte ich sie.
Ines nippte an der Tasse, stellte sie ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Seit sie sich ihre Mähne schneiden hatte lassen, das war jetzt schon Monate her, war das eine Angewohnheit geworden. Als müsste sie die Länge überprüfen. Anfangs waren sie blond gewesen, das war rausgewachsen. Jetzt waren sie lila.
»Ich habe sie zwei Mal kurz gesehen. Was soll ich da sagen?«
»Was dir durch den Kopf geht. Einfach so. Ungefiltert. Oberflächlich. Wie wirkt sie auf dich?«
»Wieso machst du den Kaffee immer so stark, Paps?«
»Ines! Geht das jetzt schon los?«
Sie lachte.
»Na klar! Wir besprechen das jetzt und einigen uns auf den Kompromiss, dass ich ihn so kriege, wie ich ihn mag.«
»Ines! Mach mir nicht solche Horror-Flashbacks!«
»Ich muss doch schauen, dass du beziehungsfähig bleibst. Nicht so ein Eigenbrötler wirst, den keine Frau brauchen kann.«
»Das schaffst du bestimmt. Ich möchte aber gern eine Antwort, Ines! Sag mir was zu dem Mädchen!«
Wieder der Griff in die Haare.
»Sie hat heute normaler ausgesehen. Letztes Mal hatte ich das Gefühl, sie versucht, wie ihre eigene Mutter daherzukommen. Irgendwie wirkt sie traurig. Egal, was sie für Klamotten an hat und wie sie geschminkt ist. Kannst du ihr helfen?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich erzählte Ines die Geschichte in groben Zügen. Sie schaute nachdenklich.
»Ich hab echt keinen Plan. Mir würde es gehen wie dir. Keine Ahnung, wie sie tickt. Ich würde ihr trotzdem helfen wollen. Zahlt sie dem Spitzenermittler wenigstens einen Spitzenpreis?«
Klassischer Ines-Themen-Totschlag. Manchmal fragte ich mich, was Karin und ich angerichtet hatten, dass sie Ernsthaftigkeit nie lange aushielt.
»Ich kann mich nicht beschweren«, antwortete ich.
V
Er schaltete das Licht an, brachte Frühstück, packte sie an den Schultern, hob ihren Oberkörper an und schob sie so kräftig nach vorn, dass sie aufrecht im Bett saß. Sie drehte ihren Kopf zur Seite. Er schmerzte. Der Hals schmerzte. Der Nacken. Alle ihre Muskeln schmerzten.
Er ging wieder.
Sie trank von dem Tee in einer henkellosen Tasse, aß ein bestrichenes Honigbrot. Sie stand auf. Es tat gut, sich bewegen zu können. Ihre Hand- und Fußgelenke taten ihr weh. Ihr ganzer Körper war eingerostet. Sie mochte diesen Körper, pflegte ihn, trainierte ihn. Aber jetzt fühlte er sich fremd an.
Sie dehnte ihre Muskeln mit Bewegungen, die ihr schwer fielen.
Der Boden in ihrem Gefängnis war kalt. Rissige alte PVC-Fliesen. Die Wände schmutzig-weiß. Unter dem Anstrich war etwas Weiches zu ertasten, eine Schicht, vermutlich isolierend oder schalldämmend. Fenster gab es keines.
Er schien den Raum für sie präpariert zu haben. Nichts war spontan gewesen. Alles von langer Hand geplant. Wann hatte das begonnen? Wann hatte er gewusst, was er mit ihr vorhatte?
Während sie sich in dem Raum bewegte, reihten sich in ihrem Geist Fragen aneinander. Warum hatte sie keine Ahnung gehabt? Nie, nie war ihr in den Sinn gekommen, dass etwas an ihm nicht stimmte. So vollkommen normal hatte er gewirkt, nett, freundlich, intelligent, charmant. Aber was war schon normal? Wie viel an ihr selbst war denn Fassade? Alles? Das meiste? Die gutaussehende Frau, die ihr Leben im Griff hatte. Offen, auf Menschen zugehend. Eine souveräne attraktive Frau, ungebunden, begehrenswert, mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Wer sah ihre inneren Blutungen, dieses bittere Gefühl, versagt zu haben als Mutter? Wer sah ihre Bemühungen, anders zu sein als ihre Eltern? Mehr zu sein als eine verwöhnte Frau, der das Schicksal die Freiheit von existentiellen Sorgen geschenkt hatte. Und damit die Freiheit von Zufriedenheit, die Freiheit von dem Gefühl, eigene Verdienste zu haben, etwas geschafft, einen Kampf gewonnen zu haben. Was wollte sie denn wieder gut machen in ihrem Leben? Alles Unverdiente, alles Geschenkte? Susan! Susan war ihr geschenkt worden. Susan war die Herausforderung ihres Lebens gewesen, ihre Chance. Wie kläglich hatte sie diese Chance vertan!
Sie setzte sich aufs Bett.
Denken half. Das Nachdenken half ein wenig gegen die Angst in ihren Eingeweiden. Nicht dauerhaft. Die Abgründe waren immer da. Er war zu allem imstande. Und Susan? Wenn er sie hier zurückließ in ihrem Gefängnis, ging er zu Susan. Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter mit ihm allein war, sein Lächeln sah, sich betören ließ, vertraute, liebte! Und sie konnte ihr nicht helfen. Sie musste nachdenken. Ankämpfen gegen die Mutlosigkeit, die sie fortschwemmen wollte. Sie musste verstehen, um ihm nicht vollkommen ausgeliefert zu sein.
Seine Mutter. Seine Mutter war der Schlüssel. Hitchcocks »Psycho«. Der Verrückte hatte seine tote Mutter im Keller aufbewahrt. Trug ihre Kleider. Sprach mit ihrer Stimme. Persönlichkeitsspaltung. Bestimmt hatte Hitchcock recherchiert. So etwas gab es. Sie hatte den Film als junges Mädchen gesehen und danach nächtelang nicht geschlafen. Aber das hier war das reale Leben. Er wusste, dass sie Anja Maiwald war und nicht seine Mutter. Doch er schien dieses Wissen ausblenden zu können. Er machte sie zu ihr. Wurde wieder Kind. Benutzte sie. Und er wurde gewalttätig, drehte durch vor Wut, wenn sie sich widersetzte.
»Du bist so schön!«
Oh Gott! Noch nie hatten Worte mit diesem Inhalt sie so verstört! In diesem Moment, als sie diesen Satz hörte, fühlte sie, dass alles geschehen konnte. Alles! Eine wilde Panik hatte sie überwältigt, überflutet. Jede Kontrolle, jede Zuversicht, dass sie diese Situation in den Griff bekommen könnte, hatte sich davon gestohlen. Diese Worte, die er leise an ihren Körper geflüstert hatte und die in ihr hallten.
»Du bist so schön!«
Sie jagten Angst um Leib und Seele in sie hinein, Angst um ihr Leben. Und um Susan.
8
Als ich mir am Abend das Taxi holte, regnete es in Strömen. Ein warmer sommerlicher Wolkenbruch. Kaum Menschen auf der Straße, nur ein paar Versprengte, die es nicht mehr rechtzeitig ins Trockene geschafft hatten und sich zu Hause als erstes die tropfenden Kleider vom Leib reißen würden. Ich stieg schon durchnässt in den Wagen, die Scheiben beschlugen, und ich mochte meinen Job nicht. Das Geschäft würde auch nicht brummen. Keine Laufkundschaft zu erwarten und immer wieder raus ans Telefon an den Taxiständen.
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