Ich hatte ein Riesenglück. Mein erster Auftrag war der medizinische Notdienst. Das hieß, einen Notarzt zu seinen nächtlichen Patienten fahren, im Wagen bleiben können, die Adressen über Funk erhalten, die Uhr ticken hören und Zeit zum Nachdenken haben.
Der Notarzt war eine Ärztin um die sechzig, ruhig, freundlich, aber wortkarg, und während sie bei ihren Patienten war, wanderte mein Geist zur Familie Maiwald. Dass in dieser Familie etwas Dunkles lag, war offensichtlich. Doch ob dieses Dunkle wirklich ein »Fall« war?
Ich trat auf der Stelle. Meine Gedanken kreisten nicht, sie kreiselten. Umschwirrten ein achtzehnjähriges Mädchen, das manchmal erwachsen wirkte, manchmal wie ein trauriges Kind.
Sie brauchte Hilfe, aber brauchte sie die von einem Privatdetektiv? Oder vielleicht eher von einem Freund, einem Seelsorger, einem Therapeuten?
Durfte ich diesen Auftrag annehmen?
Nachdem ich kurz vor Mitternacht die Ärztin nach Hause gefahren und mein Auftragsbuch ausgefüllt hatte, fuhr ich ins Nonstop. Diesmal fand ich tatsächlich einen regulären Parkplatz vor der Tür und war vor Hans da.
Ich bestellte Pizza, extrascharf für ihn, alkoholfreies Weißbier. Das Essen und Hans kamen gleichzeitig.
Wenn Hans reden und essen wollte, empfand er es als Zeitverschwendung, die Dinge zu trennen. Ich verstand ihn trotzdem. Er hatte allem Anschein nach kaum weniger über meinen Fall nachgegrübelt als ich.
Während er mit einem stumpfen Messer im Boden seiner Pizza herumsäbelte, erklärte er mir das Ergebnis seiner Überlegungen zu meinem Problem.
»Die Mutter nimmt ihre Auszeit. Das scheint sie zu brauchen. Bindungsunfähig.«
»Aha«, antwortete ich. »Das ist ja mal eine klare Analyse.«
»Keinen Sarkasmus, mein Lieber! Im Ernst, für mich gibt’s da keine andere Erklärung, die Sinn macht.«
»Ich hab das schon auch im Kopf. Allerdings noch nicht so abschließend wie du.«
Ich kaute nachdenklich und spülte mit dem Weißbier nach.
»Du hast das Mädchen nicht gesehen, Hans! Sie ist verzweifelt, und daran ist nichts aufgesetzt oder überspannt.«
»Das glaube ich dir. Doch das hat nichts mit den Fakten zu tun.«
»Wo sind denn da für dich Fakten?«
»Genau! Das ist es ja. Die Fakten fehlen. Die Mutter des Mädchens ist reich. Sie könnte entführt worden sein, aber dann gäbe es eine Forderung. Es könnte ihr etwas zugestoßen sein, aber dann wäre sie in irgendeinem Krankenhaus gelandet. Menschen, die verschwinden, wollen meistens verschwinden. Wenn man von den anderen Fällen in der Zeitung liest, dann deshalb, weil sie so selten sind.«
Hans ließ sich jetzt Zeit beim Sprechen. Aß, trank, redete und zwar hintereinander. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es ihm sehr wichtig war, verstanden zu werden.
»Mir tut die Kleine auch leid, Ludwig. Sie ist schon einmal in ihrem Leben von ihrer Mutter verlassen worden. So etwas ist tragisch und traumatisch.«
»Und die Mutter ist nun gewissermaßen vorbestraft und verdächtig. Wiederholungstäterin!«
»Höchstwahrscheinlich!«
Hans schob sich sein letztes Stück Pizza in den Mund. Ich wartete darauf, dass er weiter sprach.
»Und es gibt wahrscheinlich nichts, vor dem sich das Mädchen mehr fürchtet. Pest oder Cholera!«
»Erklär mir das!«
»Pest ist die grausam gemeuchelte oder entführte Mutter, die sie lieb hatte, Cholera die Mutter, die wohlauf ist, sich irgendwo mit ihrem Geld eine schöne Auszeit gönnt. Vielleicht hat sie irgendwo einen Lover, die Mutter, die kaum mal an ihre Tochter denkt und sich höchstens ein kleines schlechtes Gewisserchen macht.«
»Ein Gewisserchen! Du bist zynisch, Hans.«
»Nein, das bin ich nicht. Willst du einen Beweis? Frag mich, was ich an deiner Stelle täte!«
»Ok. Was tätest du an meiner Stelle?«
»Ich würde sie suchen. Ich kann ja Unrecht haben!«
9
Sie kamen, als ich beim Frühstück saß. Geweckt hatte mich Karin, um mir zu sagen, dass sie sich von mir wünsche, dass ich darauf achten solle, dass Ines sich regelmäßig bei ihr meldete. Ich versprach es.
Es waren Jan und zwei Kumpels. Ines war nicht dabei.
»Bleib einfach sitzen! Alles unter Kontrolle!«, meinte Jan.
Ich blieb sitzen, frühstückte weiter und erfuhr, was Ines so alles für nötig erachtete, um nur kurz und vorübergehend bei mir unterzuschlüpfen.
Ich beschloss, nicht hinzuschauen, und sah Truhen, Spiegel, Kisten, Körbe, Kleidersäcke, eine Tischplatte und Böcke an mir vorbeiwandern. Jan hörte nicht mehr auf zu grinsen. Er musste gesehen haben, wie ich immer kleiner wurde und in meinem Stuhl zusammensank. Nach einer halben Stunde waren sie fertig. Die Kumpels verabschiedeten sich, Jan ging in die Küche, schenkte sich einen Kaffee aus der Thermoskanne ein und setzte sich zu mir.
»Du siehst mäßig glücklich aus, Schwiegerpapa«, ulkte er. »Freust du dich nicht über die Heimkehr der verlorenen Tochter?«
In solchen Momenten, in denen ich ihn zum Mond schießen hätte können, dachte ich, dass ich mit ihm als Schwiegersohn prima auskommen würde.
»Du bist nur eifersüchtig«, antworte ich. »Damit muss man ja erst mal klar kommen, dass sie lieber zu einem alten Sack wie mir zieht, als sich Nacht für Nacht neben dich zu legen.«
Jan und ich hatten unsere eigene Sprache.
»Eifersüchtig gerade nicht, aber ein wenig enttäuscht war ich zuerst schon.«
Das war das Besondere zwischen uns. Der Schwenk zum ernst Gemeinten war zu jedem Zeitpunkt möglich. Ein paar Mal hatte ich versucht, Karin das begreiflich zu machen. Dass Ines’ Freund nicht nur ein humorbegabter und gewandter Luftikus war, sondern auch Ernsthaftigkeit hatte, wenn es darauf ankam, und vor allem, dass er unsere Tochter sehr gern hatte. Und dass er links war, weil er Charakter hatte und empathiefähig war und einen Sinn für Gerechtigkeit hatte. Und dass er ein notorischer Studiengangwechsler war, weil ihm daran gelegen war, das Richtige für sich zu finden, und nicht einfach irgendeine Karriere hinlegen wollte.
»Du findest ihn so toll, weil er so ist, wie du warst. Aber soll er das werden, was du bist?«
An dieser Stelle mochte ich meistens das Gespräch mit Karin über Jan nicht mehr.
Er war also enttäuscht darüber, dass Ines noch nicht mit ihm zusammenleben wollte.
»Es ist für sie einfach noch nicht der Zeitpunkt, Jan. Es eilt nun wirklich nicht mit der Kleinfamiliengründung.«
Er grinste wieder, und ich wusste, was er sagen würde.
»Wenn ich mir so ansehe, was sie hier im Handstreich aus deiner Bude macht, dann denke ich, dass du Recht hast«, sagte er.
»Ich muss los.« Er trank seinen Kaffee aus, tätschelte mitfühlend meine Schulter, und als er vor der Tür stand, öffnete sie sich von außen.
»Du bist noch da!«, rief Ines und umarmte ihn. »Habt ihr schon alles reingetragen?«
»Ja. Ich muss, Ines.« Er küsste sie. »Und sei nett zu deinem Papa!«
Abgang Traumschwiegersohn. Ines umarmte nun auch mich.
»Du bist der beste Vater, den ich habe.«
Ich berichtete ihr von Karins Anruf und ihrem Wunsch nach Kontakt.
»Ich klär das schon mit Mama«, meinte sie. »Du musst mich nicht ständig erinnern.«
»Gut. Das ist auch nichts für mich. Erinnern vergesse ich regelmäßig.«
»Ich ruf sie heute Abend an, sobald ich fertig bin mit Einräumen.«
Das Telefon läutete, ich nahm ab. Es war Susan Maiwald. Sie gab mir die Telefonnummer ihrer Großeltern. Sie habe sie informiert darüber, dass ich anrufen würde. Sie seien alles andere als begeistert, hätten aber doch zugestimmt.
Außerdem, sagte sie, habe sie mir eine E-Mail geschickt, im Anhang ein Foto ihrer Mutter.
Ich legte auf, fuhr den Rechner hoch, loggte mich ein und öffnete das Bild.
Die blonde nordische Susan musste ihrem Vater ähnlich sehen, denn in dieser Frau, die mich aus dem Bildschirm anlächelte, sah ich sie nicht. Dunkeläugig, lange schwarze Haare, attraktiv war untertrieben. Das war Carmen pur. Aber Carmen war zu schön gewesen, zu leichtlebig, zu verführerisch. Carmen war nicht alt geworden.
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