Frau Maiwald öffnete. Erst einen Spalt, dann ganz.
»Grüß Gott, Frau Maiwald. Ich bin Ludwig Fendt. Wir haben gestern telefoniert.«
»Kommen Sie rein!«
Ich hatte kurz meine Hand ausgestreckt, sie dann aber wieder eingezogen, als ich merkte, dass sie keine Anstalten machte, danach zu greifen.
Sie wandte sich um, ging ein paar Schritte zurück in die Diele und schien einfach vorauszusetzen, dass ich ihr folgen und die Tür hinter mir schließen würde. Das tat ich auch.
Ich fragte mich, wie man lernen sollte, ohne Vorurteile zu sein, wenn sie sich so bestätigten. Frau Mathilde Maiwald sah aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nicht in jedem Detail ihres Äußeren. Soweit hatte ich meine Vorstellung von ihr nicht galoppieren lassen. Aber in ihrem Auftreten, ihrer Persönlichkeit. Sie war unangenehm aristokratisch. Sie erinnerte mich an die Böse in 101 Dalmatiner. Mir war entfallen, wie sie hieß.
Mathilde Maiwald war groß, sehr schlank. Die grauen Haare hochgesteckt. Sie trug lange schmale Hosen, hohe Pumps. Ich fragte mich, ob sie die auch als Hausschuhe trug oder lediglich, wenn Besuch kam.
»Ich empfange Sie nur, weil Susan mich so inständig darum gebeten hat. Ich persönlich sehe überhaupt keinen Sinn darin.«
Wir standen in einer geräumigen hellen Diele, alles weiß, was das Auge sehen konnte. Die Wände, die Garderobe, ein Einbauschrank, dessen grifflose Türen kaum zu erkennen waren. Zwei Sessel, ebenfalls weiß bezogen. So weiß, dass nur wenige Hintern in ihnen gesessen sein konnten. Aber vermutlich wurden auch die wenigstens Gäste in der Diele abgespeist.
Mathilde Maiwald nestelte an ihrer Brille und sah mich fragend an. Ich war in der Bringschuld.
»Sie sehen persönlich keinen Sinn darin, Ihre Tochter zu suchen?«
»Nein.«
Sie setzte sich in einen der beiden Sessel und deutete auf den anderen. Ich setzte mich auch.
»Können Sie mir das bitte erklären, Frau Maiwald? Ihre Tochter ist verschwunden. Ist einfach zu einer Verabredung mit Ihrer Enkelin nicht erschienen und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Halten Sie das nicht für einen Grund, sich Sorgen zu machen?«
Sie betrachtete mich argwöhnisch.
»Glauben Sie auch, dass man sie suchen muss oder ziehen Sie Susan einfach das Geld aus der Tasche, Herr … wie war noch der Name?«
»Fendt. Nein, ich ziehe niemandem das Geld aus der Tasche. Ich werde bezahlt für meine Arbeit.«
»Von Susan wahrscheinlich fürstlich! Aber es gibt keinen Grund, Anja zu suchen.«
Mathilde Maiwald rückte wieder ihre Brille zurecht, diesmal mit einer entschiedenen Bewegung, als wollte sie sagen, dass ihrer Meinung nach alles Sagenswerte gesagt sei.
»Wenn Sie da so sicher sind, dann wäre es nett, wenn ich den Grund dafür erfahren könnte, Frau Maiwald.«
Ich hatte beschlossen, mich hier nicht von einer Geste davonjagen zu lassen. Mathilde Maiwald schien gewohnt zu sein, dass eine subtile Andeutung einer Beendigung des Gesprächs genügen müsste, damit ich aufstünde und mich höflich verabschiedete. Ich sah Ärger in ihrem noblen kontrollierten Gesicht.
Und ich blieb sitzen.
»Ich spreche schon mit der Mutter von Anja Maiwald, oder? Sie sind nicht etwa eine entfernte Großtante?«
»Was erlauben Sie sich!«, fuhr sie mich an. »Unterstellen Sie mir Gefühlskälte?«
»Nicht generell, Frau Maiwald! Darf ich raten? Sie haben einen Hund. Ich vermute, einen kleinen. Der wird getragen, sollten Sie jemals mit der U-Bahn gefahren sein, damit er sich in der Rolltreppe kein Pfötchen klemmt. Und im Winter kriegt er ein Jäckchen, und wenn er einmal sein Näpfchen nicht leer schleckt, kriegt er einen Termin beim Tierarzt. Oder beim Veterinär-Heilpraktiker.«
»Machen Sie, dass Sie hinauskommen!«, schrie sie mich an, und jetzt erhob ich mich wirklich.
»Sie haben überhaupt keine Ahnung!« Ein rauer Bass wehte um die Ecke, dann schob sich ein Mann hinterher. Herr Maiwald. Groß, gewichtig, und eine stimmliche Autorität. Er war auf eine völlig andere Art imposant als seine Frau. Sie war schmal und gefasst und kontrolliert, er mächtig, ausufernd, barock und laut.
Er bedeutete mir, mich wieder zu setzen, und sprach weiter: »Mathilde! Alles, was er von uns weiß oder zu wissen glaubt, hat er von Susan.«
Und dann zu mir: »Eine Sache müssen wir unbedingt klarstellen. Wir lieben unsere Tochter. Wir haben sie immer geliebt. Anja war das nie genug. Wir haben getan, was wir konnten. Aber natürlich sind wir keine Eltern gewesen, die von morgens bis abends ihr Kind betüdeln konnten. Anja hatte es immer gut. Wir hatten ein wunderbares Mädchen für den Haushalt, eine Perle. Sie hat sich rührend gekümmert.«
Mathilde Maiwald schien sich auch wieder etwas beruhigt zu haben.
»Und das Kind war immer undankbar, aufsässig.«
Ich merkte, dass es das Beste für mich war, jetzt ganz ruhig zu sein. Die beiden hatten begonnen, auf Stichworte des andern zu reagieren. Ein gegenseitiges Versichern, eine Reinwaschung, und ich durfte Zeuge sein.
»Wissen Sie …« Wieder der Bass. »Bekanntheit, Ruf, Wohlstand sind Privilegien. Aber auch eine Verantwortung.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Sie verstehen gar nichts«, sagte Mathilde Maiwald. Sie fand zu ihrer aggressiven Grundstimmung zurück. »Wir können uns vielleicht mehr leisten als andere. Aber wir können uns nicht leisten, uns zu benehmen wie Proleten.«
Gerade wollte ich fragen, was sie damit meinte. Doch Herr Maiwald hatte den Ball schon aufgefangen.
»Noch nicht mal in der Pubertät, da ist die Göre schon ausgebüchst. Unser geregeltes Leben hier war der jungen Mademoiselle nicht aufregend genug. Sie musste sich im Englischen Garten von ein paar drogensüchtigen Hippies auflesen und dann von der Polizei aufgreifen lassen. Tagelang vermisst und dann sowas. Was glauben Sie, was wir uns anhören mussten! Was unsere Bekannten von uns gedacht haben! Verwahrlostes Kind! Und das ist alles auf uns zurück gefallen. Da gab’s dann Leute, die haben sich rar gemacht. Haben uns gemieden. Nicht mehr eingeladen. Einladungen abgelehnt mit fadenscheinigen Gründen.«
Frau Maiwald half: »Und ein paar Jahre später war sie schwanger. Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihr zu helfen, aber sie wollte es haben. Bringt uns einen Bankert ins Haus. Vater gab’s keinen. Wir mussten sie verstecken, wenn wir einen unserer Abende gaben. Eine Weile hat das funktioniert. Wissen Sie, wie sie uns das gedankt hat? Kam eines Abends mit dem schreienden Kind mitten in unsere Gästegesellschaft. Das war so unsäglich peinlich. Und dann setzt sie sich in eine Ecke, holt eine Brust raus und stillt. Und kurz drauf war sie verschwunden. Ließ uns mit dem Kind allein. Irgendwann nach Jahren ist sie wieder aufgetaucht, hat die Kleine eingepackt, und das war’s dann. Kein Dankeschön, keine Entschuldigung, keine Erklärung.«
Ich wollte nur noch weg. Raus aus diesem Haus. In mir kochte eine heilige Wut. Wie konnte ein Kind mit oder unter diesen Menschen aufwachsen? Ich dachte an Anja Maiwald, die ich nicht kannte. Ich dachte an Susan. Ich hätte heulen können oder schießen, wenn ich bewaffnet gewesen wäre. Dann dachte ich an Ines, und das half ein wenig.
Weitere Fragen hatte ich nicht. Die beiden wussten nicht das Geringste von Anja Maiwalds Leben. Ich stand auf und ging. Den Weg hinaus fand ich selbst.
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