Kurz nach unserer Ankunft hatte man unsere Personalien aufgenommen. Später stand uns die Einkleidung bevor. Dazu begaben wir uns zugweise in den Warteraum, wo wir einzeln aufgerufen wurden. Der Warteraum leerte sich. Matrose um Matrose verschwand und kehrte mit einem prall gefüllten Seesack zurück. Nur ich blieb sitzen. Ich wartete. Nachdem auch der neunundzwanzigste Auszubildende mit seinem Seesack an mir vorbei ins Quartier gegangen war, erwartete ich nun endlich meine Matrosenkleidung. Doch statt zur Einkleidung wurde ich zum Kompaniechef gerufen. Der Mann, ein »Omar-Sharif-Typ«, sah mich streng an. Kaum dass ich eingetreten war. In einem klaren Hochdeutsch und frei von jedem Ostseedialekt erklärte er mir, dass ich wieder nach Hause fahren müsse. »Schwarz, schon in Merseburg hat man einen Fehler gemacht! Man hätte Sie nicht als Freiwilligen für die Marine erfassen dürfen. Es hat wohl keiner gemerkt, dass Sie noch nicht volljährig sind. Sie sind am 1. April 1935 geboren und somit erst siebzehn dreiviertel Jahre alt. Vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs dürfen wir Sie nicht einstellen.«
Ich war schon zu dieser Zeit niemand, der sich von einem gefassten Entschluss leicht abbringen ließ. Ich muss den Kompaniechef davon überzeugt haben, dass ich nie und nimmer nach Merseburg zurückfahren würde. Jedenfalls lenkte er ein: »Schwarz, eine Möglichkeit sehe ich noch. Wenn Ihre Eltern einverstanden sind, dass Sie als Minderjähriger eingestellt werden, dann ist dieses Problem gelöst. Ihre Eltern müssten dazu beim Wehrkreiskommando in Merseburg eine entsprechende Unterschrift leisten.«
Mir wurde flau im Magen, denn ich dachte daran, dass meine Mutter ganz und gar nicht mit meinem neuen Lebensweg einverstanden gewesen war. Würde sie gegen ihre Überzeugung einen solchen Antrag unterschreiben?
Ich weiß nicht, was Vater und Mutter in den folgenden Tagen miteinander ausdiskutierten. Ich weiß nur, dass die entsprechende Unterschrift an meinen Kompaniechef geschickt wurde. Kurz darauf bekam auch ich meine Matrosenkleidung. Damit war ich am 13. Januar 1953 in den Marinedienst übernommen.
Es folgte eine dreimonatige Grundausbildung. Der Leiter war ein alter Obermaat, der, so wurde gemunkelt, schon unter Adolf Hitler in der Kriegsmarine die jungen Matrosen ausgebildet hatte. Die Art, wie er mit uns Freiwilligen gleich in der ersten Woche umging, verschärfte diesen Verdacht.
Der Januar dieses Jahres war an der Küste Kühlungsborns eiskalt. Auf gefrorenem Sandstrand ließ er uns robben, in Bauchlage Drehungen auf dem Koppelschloss nach links und rechts vollführen, in Richtung Ufer Intervalle im Laufschritt absolvieren, niederwerfen, aufspringen … Vorwärts, vorwärts!
Ein Mitauszubildender war wie ich Boxsportler: Horst aus Könnern. Er rannte am schnellsten zum Ufer und war daher bereits im eiskalten Wasser, als das Kommando »Halt!« ertönte. Befehlsgemäß warf er sich nieder – ins eiskalte Wasser der Ostsee. Im Flachwasser wieder aufgestanden, drehte er sich zum am Ufer stehenden Obermaat um und schrie: »Wir sind doch keine Viecher!«
Um zweiundzwanzig Uhr war Nachtruhe befohlen. Mehrfach erschien der Obermaat danach mit einer Taschenlampe im Schlafsaal. Willkürlich suchte er diesen oder jenen Matrosen aus und befahl: »Strecken Sie Ihre Flossen raus! Vom Füßewaschen halten Sie wohl nicht viel! Ab in den Waschraum!«
Fehlerhaftes Bettenmachen und nicht nach Vorschrift abgelegte Kleidung im Schrankteil wurden sehr gemein sanktioniert. In solchen Fällen hatte er feinen Dünensand dabei und rieselte ihn zwischen die Kleidung. Anschließend legte er eine knapp gehaltene Frist fest, bis wann der komplette Sand aus dem Schrank entfernt sein musste.
Zum ersten Teil der Grundausbildung gehörte es, das synchrone Marschieren zu lernen. Zudem wurde uns die Handhabung eines sowjetischen Karabiners 100 (K100) mit aufgepflanztem Bajonett vermittelt und Übungsschießen mit dieser Waffe ausgeführt. Selbstverständlich wurde auch unsere politische Ausrichtung gedrillt. Im Führungsstab unserer Dienststelle waren hohe sowjetische Offiziere als Berater tätig. Aus Anlass des Todes des großen sowjetischen Führers Josef Stalin am 5. März fand ein großer Appell statt.
Ende April 1953 wurde unser Zug zusammen mit drei weiteren als Wachkompanie zum Schutz unserer Dienststelle eingesetzt. In der Nacht vom 17. auf den 18. Juni 1953 gab es Großalarm. Feldmarschmäßig ausgerüstet mit dem K100 und scharfer Munition harrten wir zwei bis drei Tage in der Dienststelle aus, ohne einen Befehl für einen Einsatz zu bekommen. Nach dem 17. Juni wurden zwei hochrangige Offiziere sowie unser verhasster Obermaat nicht mehr in unserer Dienststelle gesehen. Es kursierten Gerüchte von Fahnenflucht beziehungsweise Verlassen der DDR in Richtung BRD.
Ende Juni 1953 sollten wir, wie in der Grundausbildung versprochen, nach Peenemünde versetzt werden. Wir sollten unseren ersten Einsatz auf Minensuch- sowie Räumbooten der ehemaligen Kriegsmarine leisten. Nicht mit einem Schiff, sondern per Lkw brachte man uns nach Peenemünde. Es war spätabends, als wir dort ankamen. Auf dem dortigen Appellplatz begrüßte uns der Dienststellenleiter mit den Worten: »Guten Abend, Wachkompanie!« Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Wachkompanie? Schon wieder Wache schieben? Ich wollte an Bord gehen, zur See fahren. Mit Wache hatte ich nichts am Hut. Aber im Militär gilt es, Befehle zu befolgen.
Nach etwa vier Wochen Wachdienst, wir hatten gerade Politikunterricht, betrat ein Oberleutnant zur See den Schulungsraum. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Lehrer wandte er sich an uns. Er stellte sich als leitender Sportoffizier der Dienststelle vor und bat uns, aufzuschreiben, ob wir im zivilen Leben Sport getrieben hätten. Nach Dienstschluss schrieb ich auf, dass ich bereits in Mittweida mit dem Boxen begonnen hatte und in Merseburg in der Betriebssportgemeinschaft (BSG) der Buna-Werke geboxt hatte.
Einige Tage später wurde ich zum Sportoffizier gerufen. Ich hatte ein gutes Bauchgefühl. Schwarz, dachte ich mir, hast du schon wieder großes Glück? In seinem Büro empfing mich der Oberleutnant zur See. Er war ein Frauentyp mit sportlicher Figur, mittelgroß und hatte braunes, welliges Haar. Er steckte in einer Uniform, die für ihn maßgeschneidert zu sein schien. Der Oberleutnant war ungefähr vierzig Jahre alt, verheiratet und stammte aus dem Raum Dresden. »Matrose Schwarz«, sagte er, »nach Durchsicht der aufgezeichneten sportlichen Aktivitäten habe ich mich entschlossen, Sie als meinen Stellvertreter einzusetzen. Sind Sie damit einverstanden?« Was für eine Frage! Mit erhöhtem Puls sagte ich auf der Stelle zu.
Sodann zählte er mir ausführlich meine zukünftigen Aufgaben auf: Ab sofort war ich alleinverantwortlich für den Dienstsport der im Hafen liegenden fahrenden Einheiten und auch der an Land befindlichen Männer. Durchführungsort und Dienstsitz war eine große, neu errichtete Sporthalle mit vielseitigen Sportgeräten. Als ich die Halle besichtigte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass auch alle Hilfsmittel für Boxtrainings vorhanden waren. Es gab einen ledernen Sandsack, einen Punchingball, Boxhandschuhe, Ballhandschuhe sowie Springseile.
In meiner Freizeit konnte ich nun trainieren wie einst zu Hause. Ich war froh über diese Wendung und erfüllte alle Aufgaben zur vollen Zufriedenheit.
Wenn wir Landgang bekamen, suchten wir Tanzlokale auf, die es in Peenemünde nicht gab. Das war nicht einfach, denn ab Karlshagen mussten wir mit dem Zug nach Zinnowitz fahren. Ab Karlshagen war in Richtung Peenemünde militärisches Sperrgebiet. Direkt neben einer der Gaststätten befand sich in einer Bretterbude der Straßenkontrollpunkt zum Peenemünder Hafen und zum Flugplatz, der von sowjetischer Seite unterhalten wurde. Wer Wachestehen musste, saß praktisch Tür an Tür mit diesem Kontrollpunkt. Auch ich habe diesen Dienst mit weiteren Matrosen oftmals verrichtet. Bei diesen Begegnungen musste ich immer an Stjopa denken. Eigenartigerweise wussten die sowjetischen Wachsoldaten immer eher als wir, wenn in Peenemünde zum Beispiel der Chef der Volkspolizei-See, Vizeadmiral Waldemar Verner, einflog. Mitteilung eines Soldaten: »Sülfried, morgen kommen dein Votzenadmiral.« Das Gelächter war natürlich riesengroß.
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