Bei einer Fremdunterbringung oder in verschiedenen Formen der Pflegefürsorge können bindungstraumatisierte Kinder vor den Folgen ihrer early adversity geschützt werden. Jedoch ist damit die Wirkung des Bindungstraumas nicht aufgehoben, da diese Kinder ihre traumatisierende Bindungsgeschichte in sich bzw. in ihr körperliches, persönliches und relationales Funktionieren aufgenommen haben. Bei einer Teilgruppe der bindungstraumatisierten Kinder besteht das Risiko, dass das erlebte Trauma in der Pflege- oder Adoptivfamilie reaktiviert oder re-inszeniert wird, was dann zu einer neuen potenziellen Bruchlinie innerhalb eines vielversprechenden neuen Kontextes führen kann. Pflege- oder Adoptiveltern, aber auch Lehrkräfte, Familienbegleiter*innen, Erzieher*innen und andere Betreuer*innen werden in dem Moment auf eine harte Probe gestellt, sobald sie die unerträglichsten Anteile der Traumata dieser Kinder sowie ihr Misstrauen zu spüren bekommen. Manche Betreuer*innen fühlen sich dann zu einer Gegenreaktion getrieben, wodurch das bindungstraumatisierte Kind sich vernachlässigt, abgewiesen oder verlassen fühlt und die befürchtete Wiederholung des Traumas sich zu realisieren scheint. Andere Betreuer*innen werden ratlos und fühlen sich in dieser Traumadynamik gefangen, worauf sie nicht vorbereitet waren. Diese Traumadynamik ist manchmal so ausgeprägt, dass die Betreuer*innen sehr stark betroffen sind und nicht selten einem Burn-out nahekommen, was die Bedeutsamkeit einer indirekten oder sekundären Traumatisierung (Keilson, 1979) hervorhebt.
Die Autor*innen, die dieses Buch konzipiert haben, sind berufsbedingt in Deutschland und Belgien tätig. Der Hintergrund, vor dem sie das Verhalten und die kognitiven Schwierigkeiten der früh bindungstraumatisierten Kinder betrachten, ist psychodynamisch. Frühe Bindungstraumatisierungen beeinflussen neuropsychologische Reaktionsmuster und implizite unbewusste Vorstellungen von Beziehungen. Sowohl auf neuropsychologischer sowie psychodynamischer Ebene hat sich das frühe Trauma tief eingeprägt. Das Trauma kann sich folglich in einer neuen Bindungssituation manifestieren, da mit einem verzweifelten Versuch, etwas vom Trauma zu kommunizieren, das Risiko einhergeht, die neuen Beziehungen mit der waltenden Dynamik unter Druck zu setzen und in bestimmten Fällen ein neuer Abbruch der Bindung droht.
Obwohl das frühe Bindungstrauma chronologisch vorbei ist und der Vergangenheit angehört, lebt es dynamisch aktiv weiter im Unbewussten, in tief eingeschliffenen Stressreaktionen und verzeichneten Bindungsrepräsentanzen, deren Wirkung außerhalb der Möglichkeiten der Regulierung und kognitiver Kontrolle dieser Kinder besteht. In diesem Zustand sind diese Kinder für ein neues entwicklungsförderndes Angebot nicht gut erreichbar. Aus unserer psychodynamischen Perspektive beschreiben wir, wie diese Kinder neue Regulierungsfähigkeiten lernen können, wie sie ein Narrativ aufbauen, das ihnen mehr Chancen bietet, ihre Mentalisierungsfähigkeiten zu vergrößern, und wie sie im Spielen und Sprechen im Therapiezimmer an ihrem Selbstwert und Identitätsgefühl arbeiten können. Regulierung, bindungsorientierter Beziehungsaufbau, Identitätsbildung, und sich in symbolisierender Körperarbeit, im Symbolspiel, im Gespräch und während des Geschichtenerzählens ausdrücken zu lernen, werden in dieses Buch als therapeutische Ziele beschrieben. Dieses Buch ist ein Buch zu komplex traumatisierten Kindern, jedoch ist es geschrieben für deren Sorgepersonen, Betreuer*innen und Netzwerke.
Eine zentrale Dynamik bestimmter bindungstraumatisierter Kinder ist die des Rückzugs bzw. des auf Distanz-Bleibens, um sich vor neuen Bindungstraumatisierungen schützen zu können. Diese Kinder können in einer neuen Pflegesituation unerreichbar erscheinen und lassen sich nicht selten nur schwer dazu aktivieren bzw. motivieren, Beziehungen einzugehen. Wenn sie letztendlich in Beziehung treten und eine neue Bindung entstehen könnte, sind sie schon bald überaktiviert, übererregt; es wird ihnen zu viel. Diese raschen Verschiebungen zwischen ›zu weit weg‹ und ›zu nah‹, ›zu wenig‹ und ›zu viel aktiviert‹, deuten darauf hin, dass ›der wirksame Rahmen‹ dieser Kinder eher schmal ist (a small window of tolerance). Gerade deshalb gilt bei der Betreuung dieser Kinder die goldene Regel: first regulate, then relate, then reason! (Perry, 2016, in: Vliegen, Tang & Meurs, 2017). Beim Regulieren zu helfen, bedeutet, dass die Betreuer*innen für das Kind die Spannung einer neuen Bindung auf einem optimalen, jedoch schwierig zu bestimmendem Niveau halten. Nur auf dem optimalen, aber flüchtigen Niveau des Arousal wird es möglich, bei diesen Kindern anzuknüpfen und in Kontakt zu bleiben. Die Erwartungen, die mit neuen Bindungsbeziehungen einhergehen, die Vertiefung des Kontakts, die Besprechung von schwierigeren Aspekten der Beziehung und die Verarbeitung der schmerzhaften Vergangenheit wird nur möglich sein, wenn man beachtet, dass die Spannung immer in diesem schmalen Bereich des affektiv Erträglichen bleibt. Die Betreuer*innen dieser Kinder wissen, wie schwierig diese Aufgabe ist, gerade weil die mit Trauma verbundene Dynamik des Streits, des Rückzugs, des Abbrechens, der Unerreichbarkeit oder der Überforderung, des Masochismus, usw. das Kind sehr leicht aus dem schmalen optimalen Bereich des window of tolerance wirft. Unser Buch richtet sich an die mutigen Betreuer*innen, wie z. B. die Pflege- oder Adoptiveltern, die im Schatten der unsagbaren, undenkbaren, unvorstellbaren Bindungstraumata und Bruchlinien der ihnen anvertrauten Kinder arbeiten und dabei das Beste geben. Mit diesem spezifischen Fokus auf neue Bindungspersonen, Pflegeleistende und Betreuer*innen hoffen wir, die Autor*innen des vorliegenden Buches, eine Lücke in der bindungsorientierten Traumaliteratur zu schließen.
Mit unserem Buch schließen wir außerdem an eine wachsende Aufmerksamkeit in der internationalen Fachliteratur für das Thema multiple complex trauma, breakdown of attachment relationships, looked- after and adopted children (LAAC), foster care after attachment trauma, children at risk, children with early adversity an, die sowohl in der psychoanalytischen Literatur (z. B. Mortensen & Grünbaum, 2010; Lanyado, 2010, 2013 und 2019) als auch in der breiteren klinisch-psychologischen Literatur (z. B. Cooper & Redfern, 2016; de Thierry, 2017; Hughes, Golding & Hudson, 2017; Gordon, 2018; McLean, 2019; Saint Arnauld & Sinha, 2019; Naish, Dillon & Mitchell, 2020; Norris & Rodwell, 2020; Rocha et al., 2020; Jones, 2021) und in der Therapieforschung zur seelischer Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach frühen stressvollen Lebenserfahrungen (z. B. Grünbaum & Mortensen, 2018) deutlich wird. In dieser Perspektive kann auch das Leipziger Forschungsprojekt AMIS / AMIS II (Leitung: von Klitzing und White, ab 2012): Analysing pathways from childhood maltreatment to internalizing symptoms and disorders in children and adolescents) erwähnt werden, genau wie die Forschungsprojekte des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts in Zusammenarbeit mit dem IDeA-Zentrum: BAPAS – Bindungstrauma bei Adoptiv- und Pflegekindern: Eine psychoanalytische Therapiestudie (Lebiger-Vogel, Rickmeyer & Meurs, 2020) und MUKI – ›Mutige Kinder‹: Untersuchung emotionaler Erwartungs- und Bewertungsprozesse bei komplex traumatisierte Kindern im Alter von 8 bis 12 Jahren (Hug, Fischmann & Meurs, 2019). Diese deutschen Studien schließen sich gleichartigen Projekten in anderen Ländern an, so wie am University College London (Child Psychotherapy with looked after and adopted children, von: Robinson, Luyten & Midgley, 2021), am Yale Child Study Center (Developing more resilience in children after life-diminishing hardship, Mayes, 2019), und die seit 2008 in Belgien durchgeführte Leuven Adoption Study (Casalin et al., 2011; Luyten et al., 2020; Nijssens, et al., 2020; Malcorps, Vliegen et al., 2021).
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