Schon sehr früh wurde mir beigebracht, meine chronisch überarbeiteten und unter ständigem Arbeitsdruck leidenden Eltern nicht zu stören, sondern Rücksicht zu nehmen. Draußen, im Garten und im Wald, mit unseren Tieren, meinen Katzen und dem Hund, genoss ich uneingeschränkte Freiheit und eine fantastische Kindheit, voll mit Fantasieabenteuern. Zu Hause lernte ich, auf Zehenspitzen zu gehen und möglichst nicht aufzufallen. Ein Ausweg bot sich für mich in geradezu unkontrolliertem Lesen. Ich las alles, was mir in die Hände kam. Wie etwa die dreibändige Autobiografie von Maxim Gorki oder Madame Bovary von Gustave Flaubert, die ich bereits mit elf Jahren verschlang. Mein Wortschatz explodierte und brachte mir in der Schule viel Lob ein; aus heutiger Sicht betrachte ich dieses Verhalten, das mich übrigens fast mein ganzes Leben begleiten sollte, als eine Art Flucht vor dem Leben.
Ich begriff offenbar schon sehr früh, dass ich – wollte ich meine Eltern, vor allem meine Mutter irgendwie auf mich aufmerksam machen – genau genommen zwei Möglichkeiten hatte: Krankheit oder schulischen Erfolg. So wurde ich häufig, gelegentlich auch ernsthaft krank, wurde eine ausgezeichnete Schülerin, die zwei Instrumente spielte, erfolgreich auf diversen Schulveranstaltungen auftrat und zahlreiche sportliche Wettbewerbe gewann. Sowohl mein Bruder als auch ich lernten nicht nur sehr früh, uns ausschließlich über Leistung und gute Noten zu definieren, sondern auch stets besser als die anderen sein zu müssen; denn das brachte uns relativ verlässlich die Aufmerksamkeit unserer Eltern. Wie ich schnell begriff, reichten normale Leistungen nicht, im Gegenteil, je außerordentlicher, desto besser. Daher wählte ich instinktiv Aufgaben, deren Bewältigung fast einem Wunder ähnelte. So entschied ich mich, Berufsgeigerin zu werden, obwohl ich erst mit zehn Jahren begann, Geige zu spielen und aufgrund der ausgezeichneten Noten viel leichter jedes andere Studium oder jeden anderen Berufsweg hätte wählen können. Trotz der anspruchsvollen Aufnahmeprüfung – die osteuropäischen Konservatorien und Musikakademien waren weltweit für ihr hohes Niveau und ihren Leistungsdruck bekannt – und strenger Auswahlverfahren wurde ich am Konservatorium aufgenommen und beendete die Ausbildung mit Auszeichnung. Gefühlt hatte ich mich die ganze Zeit aber wie ein gehetzter Hund; denn etwa fünf Jahre Musikunterricht, die mir die meisten meiner Schulkollegen voraus waren, mussten irgendwie nachgeholt werden.
Der Drill an der Schule war entsetzlich. Noch Jahrzehnte später erkannte ich die freudlose und auf Leistung getrimmte Ausübung von Musik wieder, als ich den Film »Die Klavierspielerin« nach dem Roman von Elfriede Jelinek gesehen hatte. Von der perversen Beziehung zwischen der Klavierlehrerin und ihrem Schüler abgesehen, erlebte auch ich diesen geradezu vernichtenden Leistungsdruck, der einem die letzten Reste von gesundem Selbstbewusstsein und Selbstachtung raubte. Die zwei größten »Geigerstars« meines Jahrganges, denen damals eine brillante Solokarriere prophezeit wurde, sind heute schwere Alkoholiker. Ich absolvierte das Konservatorium u. a. mit zwei violintechnisch höchst anspruchsvollen Capricen von Niccolò Paganini, dem wohl größten und berühmtesten Geigenvirtuosen aller Zeiten, war aber der festen Überzeugung, nicht Geige spielen zu können.
Schon während der Jahre am Konservatorium dämmerte mir, dass das Unterrichten an einer Musikschule oder eine Orchesterstelle doch nicht das war, was mich erfüllen würde, deshalb musste ich nach einer anderen Ausrichtung suchen. Da ich durch mein Studium am Konservatorium in der beruflichen Auswahl bereits stark spezialisiert, das heißt auch eingeschränkt war, bot sich die Musikwissenschaft als die beste Variante an. Dieses Studium war, wie damals alle universitären Studienrichtungen in der ehemaligen Tschechoslowakei, nicht nur heiß begehrt, sondern auch streng reglementiert. In Hinsicht auf die vorhandenen Stellen – in der Tschechoslowakei gab es im Kommunismus keine arbeitslosen Geisteswissenschaftler – bekamen nur einmal in fünf Jahren lediglich fünf Studenten die Möglichkeit, abwechselnd an den Universitäten in Prag oder Brünn Musikwissenschaft zu studieren. Für mich also gerade exquisit genug. Auch diese Hürde schaffte ich und wurde nach anspruchsvollen und langwierigen Aufnahmetests aufgenommen, trotz der Tatsache, dass bei über vierzig Bewerbern drei der vorhandenen fünf Stellen bereits mit Protektionskindern besetzt waren. Mein Bruder begann ein Technikstudium.
Meine Eltern gaben mit uns beiden an. Konnten aber ihre Freunde regelmäßig davon hören, wie gescheit und begabt mein Bruder und ich waren, hörten wir selbst nur selten Lob oder Anerkennung. Da wir beide damals nie erfuhren, wie es sich anfühlt, von den Eltern geliebt zu werden, ohne dass man sich die Zuneigung zuerst irgendwie verdienen musste, dachten wir, dass unsere Existenz nur durch Leistung begründet sei. Und umgekehrt: Ohne Leistung gibt es kein Recht aufs Leben. Eine fatale Überzeugung, die das Leben meines Bruders mit dreiundvierzig Jahren früh beendete und mich schwer erkranken ließ.
Das ist das Drama der begabten Kinder – es müssen nicht immer Alkohol, Drogen, Vergewaltigung oder Gewalt sein, die dramatische Auswirkungen zu Folge haben. Viel gefährlicher ist diese subtile emotionale Ausbeutung, weil unsichtbar und in ihrer Konsequenz in der Gesellschaft sogar hoch anerkannt (fleißige, ehrgeizige Menschen …). »Burn-out« als die neue Volkskrankheit. Was steckt denn dahinter?
Durch den selbst auferlegten Erfolgsdruck getrieben, absolvierte ich nicht nur die Schule und das Konservatorium, sondern auch die gesamte Universität mit Auszeichnung. Das Problem lag nur darin, dass die guten Noten mit der Zeit irgendwie an Wirksamkeit verloren, ähnlich wie der Ministerempfang auf der Prager Burg, zu dem ich als eine der besten Universitätsabsolventen des Landes eingeladen wurde. Aber meine außerordentlichen schulischen Leistungen waren bereits übersättigend; sie wirkten einfach nicht mehr mit der gewünschten Intensität. Als ich nach meinem letzten Staatsexamen nach Hause kam und die freudige Nachricht (eine »Eins«!) mitteilte, nahm meine Mutter es kaum zur Kenntnis und meinte nur, ich solle mein Zimmer endlich aufräumen.
Meine gesamte Kindheit und Jugend über hatte ich das starke Gefühl, dass ich alles, was ich tat, eigentlich nicht für mich, sondern für meine Eltern tat. Ich musste ihnen Freude machen; ich durfte sie nie enttäuschen. Vielleicht trug auch die damalige politische Situation in der Tschechoslowakei, die kommunistische Diktatur, dazu bei, dass meine Eltern immer irgendwie frustriert und unglücklich auf mich wirkten. Keine Frage, es war nicht einfach, in einer Umgebung von Spitzeln und Geheimpolizei parteilos zu bleiben und das eigene Gesicht zu wahren, die eigenen Kinder politisch zwar aufzuklären, aber doch nicht durch zu viel Freigeist und liberales Denken zu gefährden. (Wer weiß, was sie dann in der Schule erzählen würden …) Ich liebte meine Eltern und wollte auf keinen Fall, dass sie litten. Ja: Ich fühlte mich geradezu verpflichtet, ihre Laune aufhellen, und ich fühlte mich für ihr Wohlergehen zuständig.
Später versuchte ich mehrere Male, mit meiner Mutter und meinem Vater über diese Themen zu sprechen, vor allem mit meiner Mutter, solange sie lebte. Es half nichts. Sowohl sie als auch mein Vater waren fest davon überzeugt, dass sie uns beide bestens erzogen hätten und dass ich mit den Litaneien über mein kindliches Leid grenzenlos übertriebe, denn ich hätte mal einen Krieg erleben müssen … Keine Frage, meine Eltern taten für unseren schulischen Erfolg wirklich alles, was sie konnten. Sie unterstützten uns auch später bei unserer Berufswahl und während des Studiums. Ich aber hätte bedingungslose, uneingeschränkte Liebe und Geborgenheit gebraucht und das Gefühl, dass meine Eltern mich auch dann noch haben wollten, wenn ich mal eine Zwei nach Hause brachte.
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