„Nenn mich Norbert!“
In Spielfilmen taucht in Szenen, in denen der Film und das Leben des Helden eine entscheidende Wendung nehmen, immer ein Symphonieorchester auf. In Tierheimen sind Orchester nicht zugelassen, deshalb fehlte die Musik, als Norbert das Gefühl hatte, er könne Bettina kichern hören. Er riskierte einen raschen Blick in den Zwinger. Der Tierarzt lebte noch und hockte neben dem Hund, der nun nicht mehr knurrte. Die Spritze lag neben ihm, offensichtlich noch nicht injiziert, und die ehemalige Bestie ließ bebend eine mit Blut verkrustete Stelle im Nacken begutachten.
„Was hat er denn?“, fragte Norbert betroffen.
„Beißerei“, antwortete der Tierarzt ohne aufzuschauen. „Hat seinen Gegner übel zugerichtet und einer Mitarbeiterin in die Hand gebissen. Jetzt will ich ihn mir nochmal ansehen, ehe ich ihn einschläfere.“
„Was?!“ Norbert traute seinen Ohren kaum, als er sich sagen hörte: „Aber den will ich doch mitnehmen!“
Das wiederum ließ den Tierarzt aufhorchen.
„Sind Sie sicher?“
‚Nein‘, flüsterte ein Stimmchen in Norberts linker Gehirnhälfte, während die rechte die Kontrolle über das Sprachzentrum nicht wieder hergab. „Natürlich. Glauben Sie, ich würde mit so etwas spaßen?“ Dann ging er in die Hocke, steckte wider besseren Wissens die Finger durch die Gitter und lockte: „Komm her, Norbert! Komm her, Junge!“
„Woher wissen Sie denn, wie der Hund heißt?“, fragte der Tierarzt verblüfft, als sich das Tier erhob und zögerlich in Bewegung setzte.
„Ich sagte doch, ich will den Hund mitnehmen. Da werde ich ja wohl seinen Namen kennen, oder?“
„Ist ja wieder typisch“, ärgerte sich der Veterinär. „Hier weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären nur eine halbe Stunde später gekommen, dann hätten Sie aber blöd geguckt, woll?“
‚Soll das Tierarzthumor sein?‘, ärgerte sich Norbert, während er versuchte, seine Stimme ruhig und entspannt klingen zu lassen, damit er das scheue Tier, das sich vorsichtig näherte, nicht erschreckte.
„So ist brav, Norbert, komm her, Norbert!“, murmelte er leise und spürte die kalte Nase des Hundes, der vorsichtig seine Finger beschnüffelte. Was er über Hunde wusste, hatte er aus dem Fernsehen. Er hatte nie einen gehabt und auch nie einen gewollt. Dennoch rührte ihn etwas an diesem Tier auf eine Art, die er nicht hätte beschreiben können. Vielleicht, weil der arme Kerl genauso einsam schien wie er selbst?
Norbert schickte Bettina die rasche Bitte, sie möge dafür sorgen, dass der Hund seine Finger nicht abbiss. Und tatsächlich, das tat er auch nicht. Im Gegenteil. Er begann zu schnüffeln und suchte die andere Hand, in der Norbert noch das Büchlein hielt. Ganz vorsichtig begann er mit dem Schwanz zu wedeln, und schien von dem Geruch der Hände, die Norbert nun abwechselnd so gut es ging durch die Maschen des Zwingergitters schob, gar nicht genug bekommen zu können.
„Ja, er erkennt sie, keine Frage“, murmelte der Mediziner und kratzte sich am Kopf. „Wird Zeit, dass das Tier hier raus kommt. Zwei Wochen sind für so einen Hund ohnehin schon zu lange, habe ich gleich gewusst. Ich verarzte seine Wunde nur eben, ist nicht so schlimm, wie sie aussieht. Ein paar Tage, dann ist er wieder völlig ok. Machen Sie mal weiter, das lenkt ihn ab.“ Der Arzt sprach beruhigend auf den Hund ein, aber dieser ignorierte ihn völlig. Er schien sich vollkommen auf Norberts Finger zu konzentrieren und schnüffelte mit einer Intensität an ihnen, als ginge es hier um sein Leben.
„So, fertig“, murmelte der Wundenfachmann und packte seine Utensilien weg. „Ich gehe jetzt mit Ihnen nach vorne, damit die alles klar machen können, woll? Wenn sich die Wunde nicht entzündet, spricht in einer Woche kein Mensch mehr darüber. Glück gehabt, Kleiner“, tätschelte er den Hund. „Dein Gegner hatte nicht so viel Glück.“ Dann öffnete er die Zwingertür und hatte Mühe, den Hund zurückzuschieben, der offensichtlich nichts lieber wollte, als sofort zu seinem neuen Besitzer auf die andere Seite des Gefängnisses zu wechseln.
„Nee, nee, du bleibst noch ein bisschen hier, woll?“
Norbert fing den fassungslosen Blick des Hundes auf, der nervös hin und her zu laufen begann und ihn dabei nicht einen Augenblick aus den Augen ließ.
Er hielt noch einmal seine Hände vor das Gitter und sagte: „Ich erledige nur ein paar Formalitäten. Bin gleich zurück. Pass du fein auf!“ Er kam sich schon ein wenig komisch vor, wie er da vor einem wildfremden Hund kniete und mit ihm redete, als könne er ihn verstehen, aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.
Aufmerksam hatte der Hund seinen Worten gelauscht, und sich dann zögerlich hingelegt. Nicht entspannt zusammengerollt, sondern so, als führe er ein Kommando aus, als sei er nur bereit, sich für eine kurze Weile zu gedulden.
Norbert stand auf und folgte dem Tierarzt, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem erhobenen Zeigefinger: „Warte!“ Wenn diese blöden Hundesendungen für irgendetwas gut gewesen waren, dann dafür, dass er wusste, dass gut erzogene Hunde auf präzise formulierte Kommandos reagierten. Offensichtlich gehörte ‚Warte‘ mit der Geste, die er instinktiv gewählt hatte, zum Repertoire dieses Tieres.
Norbert kam sich vor wie der Hundeprofi persönlich, als er sah, wie ‚sein‘ Hund gehorchte. Jetzt würde er draußen dafür sorgen, dass der arme Kerl nicht zu lange dort ausharren musste.
Schmerz. Angst. Geräusche. Fremde Männer. Leise Stimme, Beruhigung, Angst, Beruhigung.
Und dann… Ein Wort.
Ein Geruch, ganz klein. Kaum da. Aber vielleicht doch da? Bei dem Mann und dem Wort?
Aufstehen, riechen, riechen, riechen. Ja. Der Geruch. Sie. Ja. Sie. Ein Wort. Noch ein Wort. Ja. Sie. Ja. Der Geruch. Mehr? Hingehen, riechen, ja, sie, ja, sie. Da! Mehr sie. Ja, riechen. Oh ja. Freuen. Ein Wort. Ja. Warten. Ja. Geruch. Ja. Warten. Aber der Mann?
Egal. Der Geruch. Warten. Sie. Vielleicht.
Norbert musste schmunzeln. Das würde noch eine Menge Spaß geben, dass sie beide denselben Namen hatten. Nicht zwischen ihm und dem Hund, sie würden damit gut klarkommen, sondern allgemein. Er würde ihn ja in Zukunft überall mit hinnehmen müssen, konnte den armen Kerl ja nicht alleine zuhause liegen lassen. ‚‚Mein Hund‘, das klingt gut‘, dachte Norbert zufrieden und verdrängte ohne Mühe, dass er im Grunde nicht den blassesten Schimmer hatte, wie man mit Hunden umgehen musste.
„Lern was darüber“, hatte Bettina ihn immer wieder angefleht, „bereite dich vor. Tu es mir zuliebe, ja?“
Norbert gehörte nicht zu der Sorte Männer, die ihrer sterbenden Frau einen Wunsch abschlagen konnten, und als er ihr nicht nur endlich versprochen hatte, sich einen Hund zuzulegen, sondern auch noch, das Thema richtig ernst zu nehmen, hatte er gemerkt, wie sie sich entspannte, so als habe sie es endlich geschafft, für ihn die bestmögliche Vorsorge zu treffen.
Es gab so viel, was sie verbunden hatte, aber nach ihrem Tod hatte er immer dann das Gefühl, sie sei ihm besonders nahe, wenn er sich mit dem Thema ‚Hund‘ beschäftigte. Vor allem dieser witzige Hundepsychologe im Fernsehen hatte es ihr angetan. Quasi ‚in Memoriam‘ versuchte Norbert nun seit ihrer Beerdigung keine seiner Sendungen zu verpassen. Vermutlich noch so etwas, worüber sich ein Psychologe erfreut die Hände gerieben hätte. Manchmal meinte er nämlich, Bettina zu hören, wenn sie nickend „Genau!“ rief, sobald er wieder irgendeinen Tipp gab, der aus einem Wolf ein Lamm machte. Und irgendwie schien sie ihm dann einfach weniger verloren gegangen zu sein.
Norbert hatte sogar angefangen, Karten für die Veranstaltungen zu kaufen, mit denen dieser Typ tourte. Bei der ersten Show hatte er zwischen gut achthundert begeistert lachenden Hundefans in einem Theater gesessen und gehofft, niemand würde ihn ansehen und merken, wie ihm die Tränen in den Hemdskragen liefen. Bettina hatte sich immer gewünscht, ihn live zu erleben, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Nun ließ Norbert keinen Auftritt aus und kam sich vor wie ein Groupie, wenn er um Karten anstand, sich in den Pausen an Büchertischen hin- und herschubsen ließ und nach langen Arbeitstagen zuhause sein ‚Der tut nichts‘-T-Shirt anzog.
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