Als er merkte, dass die Tierheim-Formalitäten doch länger dauern würden, sorgte Norbert dafür, dass man ihn zu dem Tier ließ, es anleinte und ihm übergab. Sollte es ruhig dabei sein, wenn er die womöglich wichtigste Weiche seines Lebens stellte.
Und so hatte der magere Hund, vor dem sie hier alle seit der Beißerei einen Heidenrespekt hatten, in aller Gemütsruhe dicht neben seinem Bein gelegen, während er dort saß und Gespräche mit der Tierheimleitung führte, Geld überreichte und Zubehör quittierte, das die Vorbesitzer, diese Lumpen, ihm hinterlassen hatten.
„Wenn Sie mit den Vorbesitzern Kontakt aufnehmen möchten, sind wir befugt, Ihnen die Kontaktdaten zu übergeben“, sagte die Dame. Sie lächelte den Hund an, der sie aufmerksam beobachtete.
„Nein, danke“, sagte Norbert und fühlte Groll in sich aufsteigen.
„Was sind das bloß für Leute, die ihren Hund einfach abgeben!“
„Urteilen Sie nicht voreilig. Es gibt immer Situationen im Leben, die eine solche Entscheidung erzwingen können“, formulierte sie vage und erinnerte sich an den Tag, als man ihr das Tier übergeben hatte. Wenn er allerdings keine Informationen haben wollte, auch gut. Dann würde sie auch keine Details ausplaudern.
„Können die den Hund zurückfordern?“, fragte Norbert.
„In diesem Fall kann ich Ihnen versichern, werden sie das nicht tun.“
Norbert konnte sich gut vorstellen, wie Bettina spukend über ihn herfallen würde, sollte er auf die Idee kommen, diesen Hund je wieder hierher zurückzubringen, aber das erzählte er lieber nicht. Seit er seinen Namensvetter an der Leine hielt, hatte er das Gefühl, als habe er endlich das wichtigste Versprechen seines Lebens eingelöst. Er hoffte nur, dass ihm mit der Zeit einleuchten würde, warum sie so viel Wert darauf gelegt hatte.
„Können Sie mir etwas über den Hund sagen?“, fragte Norbert und vermied es, das Büchlein zu erwähnen, das er in seine Anzugtasche gesteckt hatte. Man hatte ihn bei der Übergabe des Impfausweises nicht danach gefragt, und er hätte seine rechte Hand verwettet, dass niemand von seiner Existenz wusste.
„Nun“, begann die Tierheimangestellte langsam. „Er hat sehr sensibel reagiert, als er hier ankam. Eigentlich sollte er auch kastriert werden, aber dann gab es gestern diese böse Beißerei …“
„Er sollte was?!“ Norbert fühlte einen messerscharfen Schmerz in den Lenden.
„Wir kastrieren normalerweise alle Hunde sofort, das ist besser so. Sie sollen sich ja nicht unkontrolliert fortpflanzen. In seinem Fall“, sie wies auf Norberts Begleiter, „hatten wir auf Wunsch der Vorbesitzer aus bestimmten Gründen“, sie dehnte die Worte vorsichtig, um nicht mehr auszuplaudern als sie für richtig hielt, „noch ein wenig damit gewartet. Sie können ihn aber gerne noch ein paar Tage hierlassen, das erledigen wir dann noch.“
„Kommt nicht in Frage!“ Norbert schüttelte energisch den Kopf. Dann lenkte er vorsichtshalber ein. „Jedenfalls nicht jetzt sofort.“ Besser, er stellte sich kooperativ und verständnisvoll.
‚Meine Güte, wie bestialisch‘, behielt er seine Gedanken lieber für sich und streichelte dem neben ihm liegenden Tier mitfühlend den Kopf.
„Nun, wie ich sagte, ehe wir ihn kastrieren lassen konnten, gab es gestern im Freilauf eine ziemlich üble Beißerei. Er hat seinen Gegner böse zugerichtet und eine Mitarbeiterin angegriffen, die die Hunde trennen wollte. Das hat uns gewundert. Er wirkte so friedlich und zurückgezogen. Offensichtlich scheint er sich also mit anderen Rüden nicht zu verstehen. Viel mehr kann ich Ihnen leider nicht erzählen, mehr haben wir nicht getestet. Personalmangel, Sie verstehen.“
Er verstand sehr wohl. Nichts wie weg hier.
Jemand half ihm, die bewegliche Transportbox auf die Rückbank des Autos zu quetschen, dann wurde alles andere in den Kofferraum gelegt.
„Ich komme mit raus und helfe Ihnen, den Hund in die Box zu schaffen“, bot der Tierarzt an, der mit ihm das Tierheim verließ. Die Seitentür des Wagens stand noch offen, aber bevor einer von beiden auch nur eine Bewegung machen konnte, war der Hund in den Wagen gesprungen und hatte sich geschickt mit einigen Drehungen in die Box und in eine gemütliche Position gebracht.
„Also“, schmunzelte der Tierarzt, „eins wissen wir jetzt. Der hat keine Probleme mit dem Autofahren!“ Dann drückte er Norbert eine Visitenkarte in die Hand. „Ich habe natürlich eine Praxis. Wenn Sie also die Wunde nachsehen lassen wollen oder mal Hilfe brauchen ...“
Norbert warf einen Blick auf die Karte. Dr. Schulte. Na klar. Das hätte Bettina nicht nur gefallen, sondern begeistert. Sie hatte immer an ‚Zeichen‘ geglaubt und sie auch überall gesehen. Namensgleichheiten hatten es ihr besonders angetan. Dass er nun nach zweijähriger, vergeblicher Hunde-Suche das bestversteckte Tierheim Deutschlands mit einem Hund namens ‚Norbert‘ verließ und Kontakt zu einem Tierarzt namens ‚Schulte‘ hatte, hätte ihr sehr gefallen.
„Tja, dann, herzlichen Dank für Ihre Hilfe!“
„Keine Ursache. Bin froh, dass der arme Kerl ein neues Zuhause gefunden hat, ehrlich. Wenn ich nicht schon drei hätte, wäre der inzwischen bei mir.“
„Auch wenn er nicht gut auf Rüden reagiert?“
„Man sollte immer fragen, wer der Gegner war, ehe man solche Rückschlüsse zieht. Der andere ist nicht ohne. Ist einfach schon zu lange hier.“ Er schaute nochmal in die Box, sagte „Machs gut, Norbert!“, dann ging er zu seinem eigenen Wagen. „Gute Fahrt!“
Norbert beeilte sich und beschloss, sicherheitshalber hinter dem Ortskundigen herzufahren, der offensichtlich einige brauchbare Abkürzungen kannte. Als er sich schließlich wieder auskannte, blinkte er kurz mit Fernlicht ein ‚Auf Wiedersehen‘. Am Vorderwagen flackerten die Bremsleuchten einen Augenblick lang auf, und wenig später stand Norbert vor seinem Haus. Ihrem Haus. Dem Haus, in dem nichts, aber auch rein gar nichts auf einen Hund eingerichtet war.
Er öffnete die Transportbox, griff nach der Leine und ermutigte das Tier auszusteigen. In den TV-Dokus war ‚Auto-Öffnen‘ und ‚Abgehauenen-Hund-Suchen‘ stets eins und immer Anlass für einen flotten Spruch. „Braver Hund“, lobte er also das ruhige Tier, das sich mit dem Aussteigen Zeit ließ, und dachte: ‚Was habe ich für ein Glück, dass dies kein Flitzer ist!‘
„Komm, ich zeige dir mal eben das Grundstück“, bot Norbert in der Hoffnung an, dass Norbert vielleicht irgendwo auf dem weitläufigen Gelände ein Geschäft oder zwei erledigen wolle, ehe er sein neues Zuhause inspizierte. Er ärgerte sich, dass er nicht nach Stubenreinheit gefragt hatte.
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Aus dem Handschuhfach fischte er eine Taschenlampe, dachte mit leisem Bedauern an den Schirm im Haus und ging los. Er beschloss, den Hund die offenen Grundstücksgrenzen beschnüffeln zu lassen, damit er sofort lernte, was ‚seins‘ sein würde.
Als sie nach einer halben Stunde nass und verdreckt zum Haus zurückkamen, waren drei Dinge klar. 1. ‚Mal eben‘ ging gar nichts. 2. Schuhe ohne Profil waren auf matschigem, abschüssigem Gelände Mist. 3. Dieser Hund wartete brav, bis man wieder aufgestanden war, egal wie oft man hinfiel.
Norbert schloss die Tür und leinte Norbert ab.
Der Hund, der ebenso matschig war, wie er selbst, blieb unsicher im Flur stehen. Worauf wartete er?
„Im Fernsehen schütteln sie sich jetzt immer“, versuchte er, eine hilfreiche Anregung zu geben, und gehorsam schleuderte das Tier hunderte von filigranen schwarzen Punkten an Wände und Möbel. ‚Mist‘, dachte Norbert. ‚Die putzen den Hund vorher!‘ Er holte schnell ein flauschiges, weißes Frottiertuch aus dem Gäste-WC und versuchte, abzuwischen was noch an Dreck in dem kurzen, nassen Fell hing. Der Hund erstarrte bei der Berührung und bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle. Norbert polierte nach Kräften jeden Teil des kurzfelligen Körpers. Er war sicher, dass er ein schwarz-weißes Tier mitgenommen hatte. Als er meinte, ihn endlich wiederzuerkennen, sah er angeekelt auf den ruinierten Lappen in seiner Hand. „Ein klarer Fall für die Sofortentsorgung“, murmelte er und warf das teure Stück mit spitzen Fingern in den Müll. Besser, die Putzfrau bekam es erst gar nicht zu Gesicht.
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