»Allahu akbar!«, riefen alle durcheinander.
Während die andern sich im Freudentaumel umarmten und lachend zu tanzen begannen, richtete der Kameramann seinen Apparat mit dem starken Teleobjektiv erneut auf das Inferno. Die Gewalt der Explosion hatte ein Loch in den Tank Nummer zwei gerissen. Das ausfließende Methan verdampfte sofort und entzündete sich. Der höllische Flammenwerfer versprühte sein Feuer in Sekunden über die ganze Industrieanlage. Pipelines barsten. Die Gebäude standen in hellen Flammen, bevor die erste Alarmsirene aufheulte. Hundert Meter lange Feuerzungen leckten an dürren Büschen. Bäume und trockenes Gras brannten wie Zunder. Als wäre das nicht Apokalypse genug, fachte der Scirocco die Höllenglut weiter an. Der trockene Südwind aus Nordafrika hatte kräftig zugelegt in den letzten Stunden. Die Böen trieben die Flammen mit rasender Geschwindigkeit ins Landesinnere. Bald würden die Hügel hinter Fos-sur-Mer und Richtung Marseille brennen wie Scheiterhaufen für die Ungläubigen.
»Wir können nicht länger warten«, drängte der Kameramann.
Auf der Zufahrtsstraße näherte sich eine blinkende Lichterkette. Feuerwehr und Gendarmerie rückten in Divisionsstärke an. Sie mussten über ihren Schleichweg verschwinden, bevor die Hubschrauber auftauchten und die Gegend mit ihren Suchscheinwerfern unpassierbar machten.
»Mohammed?«, rief Basem Mansour den Brüdern zu, die bereits einstiegen.
»Mohammed weiß, was er tut«, antwortete der Mann, der sich ans Steuer setzte. »Steig endlich ein!«
Kurz nach Erreichen der brennenden Steppe der Coussouls de Crau stand plötzlich Mohammeds bärtige Gestalt auf der Straße. Lachend, mit Schulterklopfen empfingen ihn die Gotteskrieger. Der Geländewagen beschleunigte und fuhr in halsbrecherischem Tempo Richtung Arles, von wo sie über Aix-en-Provence nach Marseille zurückkehren würden. Geschwindigkeitskontrollen mussten sie in dieser Nacht keine befürchten.
Marseille
Jochen Preuss murmelte etwas, das nur er verstand.
»Wie bitte?«, fragte Amira Saidi, ohne die Augen vom kleinen Fernseher im Haus am Boulevard de la Méditerranée zu lassen.
Beide starrten gebannt auf die Bilder, die seit dem frühen Morgen ganz Frankreich erschütterten. Alle Kanäle unterbrachen ihre normalen Sendungen, um über die verheerende Explosion im Flüssiggasterminal von Fos-sur-Mer zu berichten. Einsatzkräfte aus weiten Teilen des Landes waren vor Ort, um Verletzte und Todesopfer zu bergen. In der Industrieanlage hatte kaum jemand überlebt. Alles ging viel zu schnell. Die Leute hatten keine Chance. Viele verbrannten bei lebendigem Leib. Feuerwehr-Brigaden aus Marseille, Nizza, Toulon, Arles und Nîmes, ja sogar Lyon und Spezialisten aus Paris versuchten in fast aussichtslosem Kampf, die Waldbrände einzudämmen. Die kleine Gemeinde Fos-sur-Mer wurde unter schwierigen Umständen evakuiert. Die Bewohner mussten hilflos mit ansehen, wie die Flammen ein Haus nach dem andern verzehrten.
An der Pressekonferenz um zehn Uhr gab der Bürgermeister mit erstickter Stimme und Tränen in den Augen bekannt, dass man Fos-sur-Mer aufgeben musste. Die Einsatzkräfte waren überfordert. Es gab weder genug Leute noch Tankwagen und Löschflugzeuge. Man konzentrierte die Einsätze, um wenigstens Aix-en-Provence und die westlichen Vororte Marseilles zu schützen. Sechs Kompanien der Force Terrestre der französischen Truppen mit schwerem Gerät wurden aufgeboten, und der Präsident selbst war unterwegs ins Katastrophengebiet.
Der Lagebericht des verantwortlichen Kommandanten der Gendarmerie begann mit der nüchternen Feststellung:
»Wir müssen davon ausgehen, dass es sich bei der Explosion um einen gezielten Anschlag handelt.«
Amira schlug die Hände vors Gesicht und begann, leise vor sich hinzumurmeln. Preuss glaubte, den Namen Basim oder Basem zu vernehmen. Sie stand auf, um den Ton leiser zu drehen. Ihr Gesicht sah blass aus und um Jahre älter mit den Sorgenfalten auf der Stirn. Sie setzte sich wieder hin, trank einen Schluck Tee und hielt das Glas mit beiden Händen.
»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Er nickte nachdenklich. »Und vor allem: weshalb?«
Das Attentat übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nach den Gerüchten vom vergangenen Samstag war er auf vieles gefasst, aber nicht auf diese neue Dimension des Terrors. Er beobachtete Amira mit Sorge. Sie wich seinem Blick aus, sprach kaum ein Wort. Etwas lag auf ihrer Seele. Seine sanften Versuche, sie zum Reden zu bringen, fruchteten nicht. Schließlich ließ er den Namen fallen, den er gehört zu haben glaubte:
»Machen Sie sich Sorgen um Basim?«
Ihre großen, dunklen Augen schauten überrascht zu ihm auf. Er fürchtete, sie würde jeden Augenblick anfangen zu weinen.
»Basem«, korrigierte sie so leise, dass er es kaum verstand.
»Wer ist Basem, was ist mit ihm?«
Eine lange Pause entstand, bevor sie den Kopf schüttelte und seufzte:
»Ich kann nicht darüber reden.«
»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?«
»Beides«, sagte sie trotzig.
Wenn eine Frau so etwas behauptete, war es zwecklos, weiter zu fragen. Das hatte er in all den Jahren von Manon gelernt. Dennoch reizte es ihn, mehr über diesen Basem zu erfahren.
»Basem ist Ihr Freund, stimmt‘s?«, fragte er lächelnd.
Sie reagierte so heftig, dass er erschrak. Sie sprang auf, rannte aufgelöst zur Toilette und schloss sich ein. Durch die dünne Tür hörte er sie schluchzen. Er wartete, bis sie sich beruhigte, dann entschuldigte er sich:
»Es tut mir leid, Amira. Es geht mich alles nichts an, aber wenn Sie jemanden zum Reden brauchen – ich bin da, und ich schweige wie ein Grab.«
Es blieb eine Weile mäuschenstill, bis sich die Tür langsam öffnete. Amira trat mit verweinten Augen heraus. Sie hatte den Entschluss gefasst, ihn ins Vertrauen zu ziehen, denn sie begann:
»Was ich Ihnen jetzt sage, muss unter uns bleiben. Niemand darf erfahren, dass ich mit Ihnen darüber gesprochen habe.«
»Selbstverständlich«, antwortete er, verblüfft über diese fast flehend ausgesprochene Bitte.
Zögernd fuhr sie weiter:
»Basem Mansour und ich lieben uns seit Langem. Heimlich. Niemand sonst weiß etwas davon, am allerwenigsten meine Eltern. Vater traut ihm nicht. Er hat …«
Sie stockte, schüttelte den Kopf und meinte:
»Das ist nicht wichtig. Ich mache mir große Sorgen um Basem. Er hängt dauernd mit dem brutalen Mohammed herum.«
»Mohammed Hamidi, der Bärtige …«
Ein bitteres Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Schwarze Bärte tragen sie alle, aber es stimmt: Ich meine den Mann, der neulich gegen Ihre Bekannte gewettert hat. Der ist böse. Seine ganze Clique ist böse.«
Wieder entstand eine Pause, dann gab sie sich einen Ruck.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich herausgefunden habe.«
Sie führte ihn hinters Haus, ängstlich darauf bedacht, dass niemand sie beobachtete. Vor einem Schuppen blieb sie stehen. Sie tastete nach dem Schlüssel in einem Spalt unter dem Fenstersims und schloss auf. Da die meisten Holzläden zugezogen waren, drang nur wenig Licht ins Innere. Im Halbdunkel erkannte er einen Stapel Bretter, Drähte, Nägel und Schachteln voller Schrauben. Material, wie er es früher für seine Kunstprojekte benutzt hatte. Im Hintergrund stand ein großer Holztisch, darum herum Stühle. In der Ecke lagen dicke Lederkissen um eine Wasserpfeife verstreut, als hätten sich die Raucher eben vom Schwatz erhoben.
»Da halten sie ihre Versammlungen ab«, erklärte Amira.
»Wer sind sie?«
»Mohammed Hamidi, drei andere, die ich nicht kenne und Basem.«
»Sieht ziemlich harmlos aus.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe zufällig gehört, wie Mohammed von einem Plan sprach, einer ganz großen Sache. Das hat mich neugierig gemacht.«
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