Hansjörg Anderegg - Vollzug

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»Dschihad in Deutschland!«, titelt die Sensationspresse und trifft überraschend ins Schwarze.
Der SEK-Einsatz gegen den mutmaßlichen algerischen Terroristen Hassan Moussouni endet in einem Albtraum für Oberkommissarin Chris Hegel vom BKA und ihren Partner. Kaum erholt vom Rückschlag, wird Chris nach Berlin ins gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum beordert. Hinweise auf eine neue Terrorzelle in Deutschland häufen sich. In Frankreich explodiert die erste Bombe und verwandelt weite Landstriche in eine Flammenhölle. Ein Drohbrief kündigt Tod und Zerstörung in Deutschland an. Während Bundesnachrichtendienst, Bund und Länder sich über Gegenmaßnahmen streiten, rollt ein Kommando zu allem entschlossener Gotteskrieger auf das atomare Zwischenlager Lubmin zu. Gleichzeitig erreicht der Terror Chris ganz persönlich und stürzt sie in die tiefste Krise ihres Lebens.

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Sie blieb misstrauisch stehen, betrachtete das Foto, das er ihr zeigte, stutzte, sah genauer hin, dann fragte sie leise:

»Wer ist das?«

»Ihre Mutter.«

»Das ist nicht Anna …«

Sie stockte, sah ihn konsterniert an.

»Wer sind Sie?«

»Ganz richtig, Leonie«, sagte er ruhig. »Das hier ist Ihre leibliche Mutter.«

»Was reden Sie da!«, brauste sie auf.

Trotzdem ließ sie das Foto nicht aus den Augen.

»Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Erstaunlich, nicht wahr?«

»Warum tun Sie das?«, fragte sie gequält.

»Leonie, ich weiß, dass die Volkmanns Sie als Baby adoptiert haben. Zwangsadoptiert. Ich denke, das sollten Sie wissen.«

Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Unvermittelt wankte sie davon, benommen, als wäre sie eben aufgestanden und noch nicht ganz wach. Nach einigen Schritten drehte sie sich nochmals um.

»Wer ist diese Frau?«

»Fragen Sie Ihre Eltern«, antwortete er traurig und trottete seinerseits davon.

Als er wieder an der Einfahrt zur Villa vorbeikam, glaubte er, Fetzen einer lautstarken Auseinandersetzung durch die offenen Fenster zu hören.

Kapitel 6

Fos-sur-Mer bei Marseille, 13. Juni

Mohammed Hamidi beobachtete durch das Fernglas, wie die ›Baleine‹ an der Mole von Fos-sur-Mer anlegte. Aus seinem leicht erhöhten Versteck konnte er die Hafenanlage des riesigen Flüssiggasterminals fünfzig Kilometer westlich von Marseille gut überblicken. Keine Bewegung auf dem Schiff und am Kai entging seinen scharfen Augen. Die Gelenkarme der Entladestation schimmerten silbrig in der Abendsonne. Nahezu vollautomatisch dockten sie an die Stutzen der Tanks an, die wie gigantische Seifenblasen aus dem Bauch des Frachters ragten. Wenige Minuten nach dem Andocken öffneten Arbeiter die Ventile. Das flüssige, auf -160 °C gekühlte Methan begann in die Rohre zu strömen, die es in die nahen Vorratstanks leiteten. Über hunderttausend Kubikmeter fasste ein einziger dieser isolierten Behälter, die manches Hochhaus überragten.

Mohammed Hamidis Puls beschleunigte sich beim Gedanken an diese schier unerschöpflichen Brennstoffvorräte. Er richtete sein Fernglas auf die Gruppe der Verwaltungsgebäude und Werkstätten. Alles hing jetzt vom Insider ab. Wenn der Junkie versagte, konnten sie ihren Plan begraben. Die Zeit verrann zähflüssig wie die Melasse auf den Baklava seiner Schwester. Der Tag wollte nicht enden. In der hellen Dämmerung war es schwierig, das Licht in den Büros der Sicherheitszentrale überhaupt zu erkennen. Eine weitere unerträgliche Stunde verging, bevor das Licht in den Fenstern erlosch, wieder aufflammte, dreimal in kurzen Abständen.

»Das Zeichen!«, rief er seinen Leuten zu, die gelangweilt unter der alten Eiche Karten spielten und rauchten.

Kurz danach beobachtete er, wie ein weißer Van vom Gebäude wegfuhr, auf die Einfahrt zu, wo sie sich treffen wollten.

»Auf geht‘s, Brüder. Allah sei mit uns.«

Der Insider saß mit aschfahlem Gesicht am Steuer des Wagens.

»Hast du die Steine?«, fragte er mit zittriger Stimme.

Mohammed Hamidi legte das Päckchen mit dem Rauschgift ins Handschuhfach. Die Augen des Fahrers wollten aus den Höhlen treten. Seine Hand fuhr an den Knopf, um das Fach wieder zu öffnen.

»Ich brauche jetzt etwas!«, rief er mit rauer Stimme.

Sofort drückte ihm einer von Hamidis Männern den Lauf seiner Maschinenpistole in den Nacken. Der Insider fuhr los, an den Gebäuden vorbei, entlang den Pipelines zur Mole, wo die ›Baleine‹ angedockt war.

»Alles ausgeschaltet?«, fragte Hamidi beiläufig.

Er kannte die Antwort, aber die Frage sollte den Fahrer beruhigen, dessen Hände am Steuer merklich zitterten.

»Klar, wäre ich sonst hier?«, brummte der gereizt.

Ihr Vertrauensmann an Bord der ›Baleine‹ erwartete sie an der offenen Luke. Der Ladebaum schwenkte aus. Das Paket aus Algerien glitt nahezu lautlos am Flaschenzug zu Boden. Stumm hievten sie es in den Van, während sich die Luke über ihnen schloss. Kaum zehn Minuten, nachdem sie ins Auto gestiegen waren, fuhren sie mit der kostbaren Fracht Richtung Tank Nummer zwei, voll mit flüssigem Methan nach Angaben des Insiders. Mohammed Hamidi suchte die Umgebung mit dem Fernglas ab, bevor sie sich der Stelle näherten, wo das Flüssiggas vom Tank in die Pipelines zur Aufbereitungsanlage floss. Es war das schwächste Glied im Speichersystem, bestens für ihre Zwecke geeignet. Weit und breit war kein unerwünschter Zuschauer auszumachen. Niemand beobachtete, wie sie das Paket unmittelbar am Tank zwischen die Rohre schoben, denn auch die Überwachungskameras blieben ausgeschaltet.

Mohammed Hamidi nickte zufrieden. Bisher verlief die Aktion genau nach seinem Plan. Nun begann die letzte, heikelste Phase. Er kontrollierte die Uhr: 21:20 Uhr, perfekt. Basem Mansour, sein junger Vertrauter, kniete bereits neben dem Paket. Er öffnete das rote Kästchen an der Hülle, aus dem ein Kabel ins Innere führte.

»Welche Zeit soll ich einstellen?«, fragte er seinen Anführer.

»Punkt zehn Uhr wie geplant.«

Basem kannte sich mit Computern aus. Nichts anderes als ein kleiner Computer steuerte die Zündelektronik im roten Kästchen. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Brüder und der Fahrer zu, der jetzt am ganzen Leib zitterte. Das ist nicht der Schüttelfrost des Entzugs , dachte Mohammed Hamidi verächtlich. Der Insider hatte Angst, Angst um sein erbärmliches Leben. Nur ein Ungläubiger konnte ein solcher Feigling sein, war er überzeugt.

Basem Mansour erhob sich.

»22:00 Uhr ist eingestellt. Die Zeit läuft.«

»Gut.«

Mohammed nahm das Drogenpaket aus dem Handschuhfach und steckte es ein. Der Fahrer starrte ihn entsetzt an, wagte aber nichts zu sagen.

»Du bringst die Brüder zu ihrem Wagen, dann kehrst du mit dem Van hierher zurück«, wies Mohammed ihn an. »Sobald du zurück bist, gehört das Zeug dir.«

Die Männer sahen sich konsterniert an. Niemand begriff, was er vorhatte. Dieser letzte Akt war nicht so besprochen worden. Wie erwartet, kehrte der weiße Van rasch zurück. Er gab dem Fahrer den heiß ersehnten Lohn. Mit fiebrigen Händen riss der Junkie das Paket auf. Abgelenkt durch seine Sucht, bemerkte er die Bewegung hinter seinem Rücken nicht. Mohammeds Schlag traf in den Nacken und streckte ihn zu Boden. Noch einmal schlug Mohammed zu. Die Faust mit dem Schlagring hinterließ eine klaffende Wunde an der Schläfe des Fahrers. Er rührte sich nicht mehr. Mohammed Hamidi ließ ihn liegen. Es interessierte ihn nicht, ob der Ungläubige noch lebte. Spätestens in fünfzehn Minuten würde er sowieso den Tod des drogenabhängigen Verräters sterben. So jedenfalls würde sich der Tatort den Ermittlern präsentieren, sollte überhaupt etwas von ihm und dem Wagen übrig bleiben. Mohammed zog den Zündschlüssel ab und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Einfahrt und weiter die Straße hinunter, die zum Versteck führte.

Basem Mansours Uhr zeigte 21:59 Uhr.

»Wo bleibt Mohammed?«, fragte er, Schlimmes ahnend. »Warum ist er nicht mit uns zurückgefahren?«

Der Bruder an der Videokamera war zehn Jahre älter und entsprechend erfahrener.

»Mohammed muss sich um l‘initié kümmern«, murmelte er zweideutig.

Im nächsten Augenblick zuckte ein gewaltiger Blitz durch die Nacht, der das ganze Gelände in grelles Licht tauchte. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Eine Stichflamme schoss in den Himmel, als hätte Allah selbst seine Fackel am Tag des Gerichts entzündet. Gleichzeitig traf sie die Druckwelle. Die Wucht des durch die Explosion entfesselten Sturms schleuderte sie zu Boden und mit ihnen die Kamera. Der Druck erfasste ihren Wagen, drohte das tonnenschwere Geländefahrzeug zu kippen. Sekundenlang schwebte es auf zwei Rädern, bis es wieder auf den Boden krachte.

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