»Dann hat sich Ihr Studium ja gelohnt.«
Er nickte und murmelte versonnen lächelnd: »Kann man sagen … kann man wirklich sagen.«
Port Grimaud, Côte d‘Azur
Chris streifte die Schuhe ab und trat barfuß auf die Terrasse. Die Sonne hatte die Granitplatten aufgeheizt. Schon am frühen Morgen gaben sie wohlige Wärme ab. Es war beinahe windstill, was ihren Geliebten zu sportlicher Aktivität anstachelte. Mit gemischten Gefühlen sah sie den beiden Männern zu, wie sie versuchten, den Außenbordmotor des alten Schlauchboots anzulassen.
»Das Ding gehört ins historische Museum«, brummte Jochen Preuss, als der Zweitakter wieder nur zwei Takte schaffte.
Sie heuchelte Mitgefühl: »Kann ich helfen?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Das ist Männersache.«
»Sieht nicht so aus. Wie lang übt ihr schon?«
»Die Stresemanns haben sich mit der Küche entschieden mehr angestrengt als mit ihrem Boot«, musste Jamie zugeben.
Preuss richtete sich ächzend auf, reckte sich und sagte:
»Mein Angebot steht. Sie können unsern bescheidenen Kahn benutzen. Immerhin bietet der genug Platz für zwei Personen und den Captain.«
Der Motor überlebte die ersten zwei Takte. Er jammerte mitleiderregend vor sich hin, aber die Schraube drehte sich.
»Nicht nötig«, rief Jamie.
Er streckte strahlend die Hand aus, um ihr an Bord zu helfen. Resigniert verabschiedete sie sich von Jochen Preuss:
»Schicken Sie uns einen Suchtrupp, wenn wir zum Kaffee nicht zurück sind.«
Jamie saß betont lässig am Ruder wie ein alter Fischer, der den Weg durch das verwirrende Netz verzweigter Kanäle mit geschlossenen Augen fand. Auf seinem Gesicht jedoch spiegelte sich eine innere Anspannung, dass sie schließlich beruhigend eingreifen musste:
»Gut machst du das.«
Er musterte sie misstrauisch. »Du ziehst mich auf.«
»Nichts liegt mir ferner. Verrätst du mir, wohin die Reise geht?«
Er zuckte die Achseln. »Habe ich mir noch nicht überlegt. Ein Stück an der Küste entlang Richtung Saint-Tropez, was meinst du?«
»Die lassen uns da nie und nimmer anlegen mit dieser aufblasbaren Badewanne.«
»Wir können uns auch einfach treiben lassen, schwimmen, den freien Tag auf dem Wasser genießen.«
Er steuerte das Boot im Schneckentempo auf die Bucht hinaus. Sie entfernten sich nach ihrem Geschmack zu weit von der Küste. Einer Küste, die ihren Namen Tagen wie diesem verdankte. Versonnen blickte sie aufs himmelblaue Meer hinaus. Das Städtchen an der Spitze der Landzunge musste das berühmte Saint-Tropez sein, ganz niedlich anzusehen aus der Distanz. Sie drehte sich auf den Bauch, schob den Sonnenhut in den Nacken und begann, die Wellen zu zählen. Jamie drosselte den Motor noch weiter, bis er verstummte. Erschrocken fuhr sie auf.
»Wenn er nun nicht mehr anspringt?«
»Gute Frage«, murmelte er betroffen.
Beim zweiten Versuch lief die Maschine wieder. Jamie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und drehte den Benzinhahn wieder zu.
»Kein Problem, wie du siehst.«
Von der Vergangenheit auf die Zukunft eines Motors zu schließen, der an Depressionen litt, war verwegen, doch sie schwieg. Der sanfte Wellenschlag und hin und wieder der Schrei einer Möwe unterstrichen die Stille inmitten der Bucht. Lange Zeit lagen sie in Gedanken versunken nebeneinander, jeder in seiner eigenen Traumwelt, weitab vom Alltag.
»Wovon Sven jetzt wohl träumt«, fragte sie unvermittelt. »Träumt man im Koma?«
»Medikamente wie Pentobarbital oder Thiobarbital reduzieren die Hirnaktivität drastisch, aber das Organ arbeitet weiter. Das wird laufend mit dem EEG kontrolliert. Viele Patienten behaupten nach dem Aufwachen, sie hätten geträumt, was durchaus möglich ist.«
»Da spricht der vorsichtige Mediziner«, lachte sie.
Es war kein befreites Lachen. Beim Gedanken an ihren Partner auf der Intensivstation erschien ihr das Blau des Wassers mit einem Mal eine Spur dunkler und bedrohlicher. Jamie spürte es. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.
»Bald hat er es überstanden«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Eng an seinen Körper geschmiegt, wurde ihr die Hoffnung allmählich zur Gewissheit. Alles würde sich doch noch zum Guten wenden. Ahmed Moussouni würde auspacken, sein Bruder Hassan gefasst werden und Sven wäre wieder ihr alter Partner, als hätte Hamburg nie stattgefunden. In Jamies Armen gab es nur den optimistischen Blick in die Zukunft. Im Augenblick stimmte einfach alles. Als er den Griff lockerte, zog sie ihn fester an sich und sagte leise:
»Ist gut so.«
Das Boot schaukelte sanft auf den Wellen. Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne und sorgte für willkommene Abkühlung. Sie brauchten nicht zu reden, um ihr Glück zu genießen. Sie kommunizierten auf andere Weise und verstanden sich auch so. Sie gehörten zusammen, zwei Wesen in perfekter Symbiose. Fast perfekt jedenfalls. So gut es eben ging in dieser Welt mit tausend Unbekannten. Sie sah ihm ins Gesicht und hätte schwören mögen, ihm schwirrten die gleichen Gedanken durch den Kopf.
Er räusperte sich. »Chris?«
»Hmm?«
»Willst du meine Frau werden?«
Der Schock katapultierte sie aus seiner Umarmung. Ein Fuß stieß an die Bootswand. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings mit Strandkleid und Sonnenhut ins Wasser, bevor Jamie seine Hand ausstrecken konnte. Mit einem Schreckensruf sprang er ihr nach. Sie strampelten im Wasser, eng umschlungen wie zwei Kröten im Frühling, bis sie am Boot Halt fand.
»Entschuldige«, keuchte er. »Das war dumm von mir, dich so zu überfallen. Eine altmodisch romantische Vorstellung – ich meine – wir sind doch sowieso zusammen – was würde sich überhaupt ändern …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, dann kletterte sie ins Boot, schwerelos wie die Möwe in der lauen Brise. Er blieb wie ein Stoßdämpfer an der Hülle hängen, warf ihr dabei so leidende Blicke zu, als übte er genau diese Funktion aus. Ihr Herz pumpte heißes Blut durch die Adern, dass sie glaubte, es rauschen zu hören wie das Meer. Sie verschloss ihm den Mund mit einem langen, innigen Kuss, bevor sie ihm die einzig mögliche Antwort ins Ohr hauchte:
»Oui!«
Sie spürte, wie seine Anspannung nachließ. Ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Das …«, begann er, stockte und schluckte leer.
Sie nickte lachend. »Das ist Französisch und heißt ›ja‹!«
»Das ist wunderbar, wollte ich sagen. Ich kann es gar nicht fassen. Chris, Liebste …«
Tausend Gedanken stürzten auf sie ein, während sie sich in stillem Glück umarmten, als dürfte sie nie mehr etwas trennen. Er schien vergessen zu haben, dass er immer noch mitsamt den Kleidern im Wasser hing.
»Willst du nicht reinkommen? «, fragte sie nach einer Ewigkeit.
Sie half ihm ins Boot. Beide streiften die nassen Kleider vom Leib und legten sie zum Trocknen aus. Er stand nackt vor ihr und stieß einen tiefen Seufzer aus, als wäre die Last seines Junggesellenlebens von ihm abgefallen.
»Mein Gott, Chris! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Scheiß Angst ich vor deiner Antwort gehabt habe.«
Sie zog ihn an ihren Busen, damit er die wässrigen Augen nicht sehen konnte. Als Realistin hing sie längst nicht mehr an der romantisch verklärten Vorstellung des Teenagers von Traumhochzeit und ewigem Glück. Insgeheim aber hatte sie jahrelang auf seine fünf Worte gewartet.
»Wärst du ins Wasser gegangen, wenn ich Nein gesagt hätte?«, fragte sie nach einer Weile.
»Augenblicklich!«
»Aber du kannst schwimmen …«
»Nicht nach deinem Nein.«
Seine feuchte, warme Haut regte ihre Hormonproduktion an. Die Wirkung der Körpersäfte spürte sie deutlich in ihrem Schoß.
»Kannst du das nochmals machen wie neulich …«, flüsterte sie.
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