»Was kann Frau Staatsanwältin Winter von mir wollen?«, fragte er heiser.
»Erschrecken Sie jetzt nicht wieder«, warnte sie. »Sie will Sie kennenlernen.«
»Staatsanwältin Winter will mich kennenlernen? Warum möchte sie das?«
Die Frage klang verzweifelt.
»Keine Panik, Seidel. Ich glaube, sie steht nicht auf junge Männer. Sie will nur wissen, mit wem sie‘s zu tun hat. Das ist alles.«
Es schien ihn nicht zu beruhigen.
»Sie werden doch dabei sein?«, fragte er ängstlich.
Es kostete sie einige Anstrengung, nicht zu lachen. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu antworten, denn sie näherten sich dem Häuserblock am Ende der Quartierstraße in Marzahn, wo Eddie Jones gewohnt hatte.
»Am besten überlassen Sie mir das Reden«, sagte sie beim Aussteigen.
Der Block erinnerte an DDR Zeiten, obwohl die Häuser kaum älter als zehn, fünfzehn Jahre sein konnten. Grauer Verputz bröckelte von grauem Beton und eingeschlagene Fensterscheiben im Erdgeschoss ließen nichts Gutes erahnen. Umso erstaunter stellte sie fest, dass Mr. Jones Wohnung nicht aufgebrochen worden war und das Polizeisiegel unversehrt an der Tür klebte.
»Wo bleibt der Hausverwalter? Haben sie ihn nicht informiert, Seidel?«
»Doch, selbstverständlich habe ich ihn informiert, aber wir sind wohl etwas zu früh.«
»Besser früh als zu spät«, brummte sie und versuchte, die Tür aufzustoßen.
Sie war verschlossen, was bei Seidel hektische Aktivität auslöste. Er nestelte aufgeregt in seiner bodenlosen Aktentasche, bis er einen Schlüsselbund in einem Plastikbeutel zutage förderte.
»Ich dachte, wir könnten Mr. Jones Schlüssel heute brauchen«, sagte er verlegen. »Ich habe das Asservat deshalb zurückbehalten. Hätte ich das nicht …«
»Seidel, Seidel!«, unterbrach sie schmunzelnd. »Geben Sie schon her.«
Der Junge hatte eine große Karriere vor sich. Die Wohnung bestand im Wesentlichen aus dem Wohnzimmer mit einem Wandschrank, in dem Küche und Bad zusammen Platz gefunden hätten. Sie blieb verblüfft stehen.
»Was fällt Ihnen auf, Seidel?«
»Man sollte lüften.«
»Das auch, sonst?«
Er zuckte die Achseln und lief rot an.
»Sehen Sie Kleider, Schuhe, sonst irgendetwas, was auf den Bewohner hindeutet?«
»Stimmt, nicht einmal ein Handtuch im Bad«, gab er in ungewohnter Kürze zu.
Die Billigmöbel standen noch da, Bratpfanne und Suppentopf nebst einigen Gläsern und Besteck in der Küche ebenfalls, aber sonst erweckte die Wohnung den Eindruck, der Mieter wäre ausgezogen.
»Gibt es in den Akten einen Hinweis auf seine neue Anschrift?«
Seidel schüttelte den Kopf, sprachlos, als trüge er die Schuld an der Verwirrung. Wer hatte hier ausgeräumt? Wollte jemand Spuren beseitigen? Der Scharfschütze vielleicht? Als läse er ihre Gedanken, sagte Seidel:
»Vielleicht haben die Nachbarn etwas gesehen.«
Sie nickte. »Wir werden sie gleich fragen.«
Acht Uhr war vorbei. Der Verwalter ließ sich noch immer nicht blicken. In der Wohnung gab es nichts mehr zu sehen. Sie beschloss, mit der Befragung zu beginnen. Die Tür des Nachbars zur Linken öffnete sich, als sie auf den Flur traten. Eine alte Dame, deren sorgfältig lackierte Fingernägel wohl ihren einzigen Luxus darstellten, kam ihnen entgegen.
»Wer sind Sie, was haben Sie in Mr. Jones Wohnung zu suchen?«, fragte sie streng.
Der Ausweis beruhigte sie nur teilweise. Sie musterte den jungen Referendar misstrauisch.
»Schon wieder Polizei? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der nette Mr. Jones etwas verbrochen hat, im Gegensatz zum andern Gesindel in diesem Haus. Alles Ganoven, wenn Sie mich fragen. Aber vor Mr. Jones haben alle großen Respekt. Wissen Sie, früher …«
»Sie kennen ihn gut?«, unterbrach Chris rasch, um Seidel an einer unvorsichtigen Bemerkung zu hindern.
»Natürlich, was denken Sie denn, wir sind Nachbarn.«
»Natürlich. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Die Frau sah sie an, als vermute sie unanständige Hintergedanken. Dann antwortete sie so, dass nur Chris es hören sollte:
»Freitagmittag vor einer Woche.«
»Seither nicht mehr?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er müsse eine Weile weg, hat er gesagt.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung.«
Die Frau schien Eddie Jones recht gut zu kennen. Chris stellte ihr die üblichen Fragen nach dem Befinden des Opfers in der letzten Zeit, Auffälligkeiten, Freunden, Feinden, Besuchern, Auseinandersetzungen, die sie vielleicht beobachtet hatte. Die Antwort war stets eine Variante von: Mr. Jones war ein ruhiger, anständiger Mensch. Die Nachbarin wurde misstrauisch.
»Warum stellen Sie mir all die seltsamen Fragen? Ihm ist doch nichts zugestoßen?«
Sie musste der alten Dame die Wahrheit sagen. Offenbar hatte sie die Zeitungsmeldung übersehen, oder sie las keine Zeitungen. Eine Todesnachricht zu überbringen, empfand Chris als schlimmste Pflicht in ihrem Beruf. Die Eröffnung schockierte Eddie Jones’ Nachbarin, als hätte sie ihren eigenen Sohn verloren. Die Fassungslosigkeit der alten Dame übertrug sich auf Seidel. Stumm notierte er die spärlichen Ergebnisse weiterer Befragungen, bis Chris sich schließlich nach seinem Befinden erkundigte. Er zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten.
»Wie schaffen Sie das?«, murmelte er nach einer Weile undeutlich.
»Was meinen Sie?«
Er gestikulierte hilflos mit den Armen. »Das alles – nicht an sich heranzulassen.«
»Gar nicht«, gab sie unumwunden zu. »Man kann so etwas nicht einfach wegstecken. Es ist der Punkt, wo aus Opfern Menschen werden, Menschen mit Beziehungen zu andern Menschen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Das war ehrliche Trauer. Die Nachbarin trauert um den Toten, ein tröstlicher Gedanke, finden Sie nicht?«
Die Ankunft des Hausverwalters unterbrach sie. Außer Atem entschuldigte er sich für die Verspätung und reichte ihr eine Mappe mit Dokumenten.
»Mietvertrag, Referenzen, Adresse des Arbeitgebers, alles da, wie Sie sehen«, bemerkte er dazu.
Er sah das zerschnittene Siegel und strahlte.
»Heißt das, die Wohnung ist freigegeben?«
»Leider nein, Sie müssen sich gedulden, bis der Fall abgeschlossen ist.«
Er wich entsetzt einen Schritt zurück. »Aber – wie lang dauert das noch? Die Wohnung muss gereinigt werden, bevor die neuen Mieter einziehen.«
»Neue Mieter? Das ging aber flott.«
»Was glauben Sie, wie lang unsere Warteliste ist?«
Es gab zwar kaum bezahlbaren Wohnraum in dieser Stadt, aber Eddie Jones‘ Wandschrank konnte man auch nur mit viel gutem Willen als Wohnung bezeichnen. Sie schwieg und staunte über die nächste Bemerkung des Hausverwalters:
»Mr. Jones hat die Wohnung vorletzte Woche gekündigt. Da mussten wir natürlich handeln.«
»Wann genau war das?«
»Die Kündigung? Wir haben sie Freitag vor einer Woche erhalten.«
Zur gleichen Zeit hatte sich Eddie Jones von der Nachbarin verabschiedet nach der Räumung seiner Wohnung. Es war ein Abschied für immer, und er wusste es, wie eine Katze, die sich zum Sterben in ein dunkles Versteck verkriecht. Die Kopie der Kündigung lag bei den Dokumenten des Hausverwalters. Sie enthielt keine Begründung.
»Gab es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz?«
Der Hausverwalter zuckte die Achseln. »Mir ist nichts bekannt, aber das müssen Sie bei Siemens nachfragen. Er hat dort im Sicherheitsdienst gearbeitet. Steht alles in den Unterlagen.«
Bevor sie wieder ins Auto einstiegen, sagte sie zu Seidel:
»Melden Sie uns bei Siemens an. Wir möchten mit dem Personaldienst und den Kollegen sprechen.«
Sie selbst musste nachdenken.
Die Lagebesprechung bei Staatsanwältin Winter geriet zur Nagelprobe für den armen Seidel. Sie richtete die Fragen nur an ihn, begierig darauf, den jungen Mann bei einem Fehler zu ertappen. Ihr Verhalten erinnerte Chris fatal an den Griesgram Mertens. Seidel schwitzte Blut. Man sah es ihm an. Umso lustvoller versuchte Winter, ihn in die Enge zu treiben. Chris bereitete sich auf die Rettung in letzter Sekunde vor, doch er hielt stand, wiederholte die Fakten sachlich, auch wenn sie zum dritten Mal danach fragte. Auch ihre eigenen Recherchen bei der US-Navy gab er korrekt wieder. Sie konnte sich zurücklehnen und einmal mehr im Geiste Hauptkommissar Mertens danken.
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