»Wie wir wissen«, fuhr er fort, »hat Mr. Jones als SCPO der US-Navy in Afghanistan gedient. Dort ist er schwer verwundet worden. Nach einem längeren Klinikaufenthalt im Lazarett Landstuhl bei Kaiserslautern hat er vor zehn Jahren den Dienst quittiert. Seither führte er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben in Deutschland. Er ist jedenfalls nicht aktenkundig.«
Die Staatsanwältin öffnete den Mund, doch er nahm ihre Frage vorweg:
»SCPO ist das offizielle Kürzel für Senior Chief Petty Officer, was etwa dem Stabsbootsmann der Deutschen Marine, also einem höheren Unteroffiziersrang, entspricht.«
Immer noch kein Fehler. Die Enttäuschung stand der Staatsanwältin ins Gesicht geschrieben. Mangels Alternative wandte sie sich an Chris und fuhr sie an:
»Mir scheint, wir gewinnen jedes Quiz über Mr. Jones, aber gibt es vielleicht auch einen winzigen Hinweis auf den Täter?«
»Nur Vermutungen. Wir stehen erst am Anfang.«
Winter spielte ungeduldig mit ihrem Stift und wartete. Da niemand weitersprach, platzte ihr der Kragen:
»Verdammt, wissen Sie, was da los ist? Die Presse rennt mir die Bude ein. Ein schwarzer US Soldat von einem Profikiller mitten in Berlin erschossen – ein Albtraum!«
»Vor allem für den Soldaten«, bemerkte Chris kühl.
Sie konnte es nicht lassen. Die Presse interessierte sie einen feuchten Kehricht, und an den Profikiller glaubte sie nicht. Der hätte sich nicht mit einem einzigen Schuss zufriedengegeben. Drei Schüsse in Kopf und Herz, um sicher zu gehen, das war die übliche Methode. Sie verspürte keine Lust, die Winter aufzuklären. Die Sitzung hatte schon zu viel Zeit gekostet, doch die Staatsanwältin gab noch nicht auf:
»Können wir ein rassistisches Motiv ausschließen?«
»Erst, wenn wir den Täter gefasst haben«, antwortete Chris getreu nach Lehrbuch.
»Das weiß ich auch. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich will aber wissen, was Sie denken.«
»Eddie Jones hat seinen Abgang geplant, so viel ist bekannt. Er hat die tödliche Kugel ruhig erwartet, ohne sich zu wehren. Für mich sieht das nicht nach rassistischer Gewalttat aus.«
»Trotzdem, solang der Täter ein Phantom bleibt, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«
»Wir müssten«, gab Chris zu, »aber ohne Leute? Wir nehmen uns jetzt das Arbeitsumfeld des Opfers vor. Es könnte sich sehr wohl um eine Beziehungstat handeln.«
Winter verzichtete auf Einspruch und schloss die Sitzung mit dem Allgemeinplatz: »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Seidel holte tief Luft und räusperte sich umständlich, bevor er sie unter der Tür ansprach:
»Frau Dr. Winter, Sie wollten mich sprechen?«
Sie blickte ihn abwesend an. »Ich? Ach so, ja, hat sich erledigt, danke.«
Chris sah die Endorphine in seinen Augen tanzen wie Derwische.
»Haben Sie das gehört, Seidel? Sie hat Danke gesagt, Danke, unvorstellbar.«
Er nickte ergriffen mit dem Lächeln der Mona Lisa im Gesicht.
Jens Haase erwartete sie auf dem Flur, ein Bündel Akten unter dem Arm.
»Das sind Ihre Unterlagen für den Besuch bei Siemens«, sagte er.
Verblüfft nahm sie die Papiere entgegen. »Ich habe eher ein Blatt A4 erwartet, kein Buch, aber vielen Dank.«
»Das Wichtigste steht auf dem Deckblatt.«
Haase mochte nicht der Schnellste sein zu Fuß, beim Recherchieren hingegen schlug er sie um Längen. Ein süßlicher Duft nach geröstetem Getreide und Kakao strömte aus seinem Büro.
»Betreiben Sie eine Kaffeerösterei da drin?«
»Riecht gut, nicht wahr? Ich habe die neue Arabica-Mischung erst vor Kurzem entdeckt. Darf ich Ihnen ein Tässchen offerieren?«
»Schwarz ohne alles«, antwortete sie lächelnd.
Er nickte zufrieden. »Die einzige Art, diese edlen Bohnen zu genießen.«
Sie hatte den Tempel der Glückseligen am Treptower Park gefunden. Sie ließ erst ihre Nase trinken, bevor sie die Tasse zum Mund führte. Haase trank mit geschlossenen Augen in kleinen Schlucken. Plötzlich schlug er sich an die Stirn.
»Ich alter Esel!«, rief er aus, »Dr. Lenz von der KTU Wiesbaden hat angerufen. Entschuldigung, ich werde vergesslich.«
»Kaffee hilft eben nur dem Langzeitgedächtnis«, lachte sie. »Was hat Caro zu berichten?«
»Sie wollte mir nichts sagen, aber es scheint wichtig zu sein. Sie sollen sie zurückrufen.«
War die Kriminaltechnik schon fertig mit der Analyse? Ihre Freundin Caro Lenz, Chemikerin wie sie, arbeitete schnell, aber so schnell? Die ersten Worte aus dem Hörer dämpften ihre Freude sogleich:
»Wir kommen nicht weiter«, sagte Caro.
»Mal was ganz Neues. So etwas aus deinem Mund?«
»Ich hoffe, du amüsierst dich gut.«
Caro litt, wie schon früher an der Uni, wenn sie ein Problem nicht lösen konnte. In solchen seltenen Fällen war es besser, den Mund zu halten, also wartete sie auf ihre Erklärung.
»Zuerst das Offensichtliche«, begann sie mürrisch. »Der Täter hat Munition vom Kaliber 9x19 mm Parabellum benutzt. Die Tatwaffe ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beretta M9, die offizielle Pistole der US-Navy. Soweit ist alles klar. Verwertbare Fremd-DNA gibt es keine. Fingerabdrücke auf der Patronenhülse sind durch die Hitze zerstört worden. Die Abdrücke auf der Erkennungsmarke hat der Täter wohl abgewischt.«
»Das ist Pech, aber nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Chris.
Caro reagierte unwirsch: »Ich bin noch nicht fertig. Wie gesagt, die konventionelle Methode liefert keine Fingerabdrücke, aber wir haben ›Bullet Fingerprints‹ sichergestellt, und zwar sowohl auf dem Dog tag wie auf der Patronenhülse.«
»Was sind ›Bullet Fingerprints‹?«
Die Frage verbesserte Caros Laune augenblicklich.
»Sieh an, die allwissende Chris ist nicht auf dem neusten Stand«, lachte sie. »Zugegeben, die Methode der ›Bullet Fingerprints‹ ist neu. Wir können damit Abdrücke auf Metall sichtbar machen, selbst nachdem sie abgewischt sind. Man behandelt die Oberfläche mit einem Keramikpulver und legt eine hohe Spannung an. Das Pulver reagiert so mit feinsten Korrosionsspuren, die Finger auf dem Metall zurücklassen. Dadurch konnten wir identische Zeigefinger- und Daumenabdrücke auf der Hülse und dem Dog tag sicherstellen, die nicht vom Opfer stammen.«
Das hörte sich an wie Weihnachten, und sie gab es Caro zu verstehen.
»Schon, aber jetzt ist Ende der Fahnenstange«, klagte ihre Freundin. »Wir haben alles abgesucht. Es gibt keinen Treffer in unseren Datenbanken. Ich packe alles in eine Mail und wünsche dir viel Erfolg.«
Chris teilte Caros Pessimismus nicht. Sie waren einen enormen Schritt vorangekommen. Es gab eindeutige Fingerabdrücke des Täters, anders waren die Spuren auf der Patronenhülse kaum zu erklären, und sie wusste nun, dass der Täter die Erkennungsmarke angefasst hatte. Weshalb, blieb ein Rätsel, aber es könnte ein wichtiges Indiz sein. Die Armeepistole als Tatwaffe passte zu ihrem Verdacht, es handle sich um eine Beziehungstat unter ehemaligen Kameraden. Es lag auf der Hand, durch welche Datenbank sie die Fingerabdrücke nun schicken mussten.
»Haben Sie gute Verbindungen zur US-Navy?«, fragte sie Haase mit ironischem Unterton.
»Kann man nicht behaupten, aber mailen Sie mir die Bilder. Ich kümmere mich um den Papierkram und schicke sie ans EUCOM in Stuttgart.«
»Das wird dauern«, sagten beide gleichzeitig.
»Wir müssen aufbrechen«, mahnte Seidel.
Sie nickte, wollte ausloggen, als der Groschen fiel. Es gab möglicherweise einen schnelleren, kleinen Dienstweg: Sofie Neubauer, ihre Bekannte beim Bundesnachrichtendienst. Ein Schuss ins Blaue, aber einen Versuch wert. BND, MAD und Verfassungsschutz besaßen ihre eigenen Archive und Datenquellen. Sie traute Sofie zu, die Fingerabdrücke zu identifizieren, falls sie dort gespeichert waren. Auf dem Weg zu Siemens wuchs ihr Optimismus. Sofie würde bald zurückrufen. Sie spürte es in den Nieren.
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