Hansjörg Anderegg - Vernichten

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Information kann tödlich sein. Vladimir Lukov ist Hacker, ein Profi, und er hat seine Seele dem Teufel verkauft.
»Vernichten!«, lautet der hoch bezahlte Auftrag an die Hacker in Sankt Petersburg. Im Europol Operational Centre in Den Haag gehen die Lichter aus. Hauptkommissarin Chris Roberts vom Bundeskriminalamt tappt im Dunkeln wie der halbe Polizeiapparat Europas. Die Ermittlungen gegen den international organisierten Kinderhandel versanden, bis sie die Spur nach Sankt Petersburg entdeckt. Lukov ist der Schlüssel. Die gnadenlose Jagd beginnt und wird sie für immer verändern.

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»Die wirkt offenbar auch bei dir.«

»Nein im Ernst, Gregori. Was immer dein Schokoriegel ausgelöst hat, es wird uns weiterhelfen.«

»Toll, dass ich helfen konnte«, brummte er, ohne ihren Optimismus zu teilen.

Er glaubte nicht daran, dass das immer noch namenlose Mädchen selbst überhaupt wusste, woher es kam und wer es ins Hotelzimmer verschleppt hatte. Langsam aber sicher sehnte er sich zurück ins Büro, ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte.

»Was wird aus der Kleinen?«, fragte er.

Er kannte die Antwort, überließ es aber gerne seiner Partnerin, die brutale Wahrheit auszusprechen. Sie tat es ohne Wenn und Aber:

»Sie wird in ein Waisenhaus gesteckt, wo man sie bei nächster Gelegenheit an eine andere Bande verkauft – oder an dieselbe.«

»Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Nein.«

Damit war das Thema vorerst erledigt. Keiner kannte ein Rezept, um die Zustände zu ändern. Wie Angehörige vor dem OP gingen sie schweigend auf dem Flur auf und ab, bis sich die Tür zum Spielzimmer wieder öffnete. Die Psychologin trat heraus, zufrieden lächelnd.

»Jelena zeichnet.«

»Jelena?«, riefen sie wie aus einem Mund.

Die Psychologin nickte. »Sie heißt Jelena, einfach nur Jelena. An einen Nachnamen erinnert sie sich nicht. Natascha heißt übrigens ihre Freundin.«

»Die Puppe.«

»Auch, aber die heißt nur so wegen ihrer echten Freundin. Sie vermisst sie und will sie suchen. Sie kennt ihre Adresse nicht, aber ich habe ihr vorgeschlagen, das Haus zu zeichnen.«

»Sie sollten bei der Polizei arbeiten«, sagte er mit breitem Grinsen.

Die Hoffnung kehrte zurück. Der Ausflug in die Tiefen der Kinderseele war womöglich doch nicht ganz sinnlos. Erstaunt stellte er fest, dass Jelena an seinem Schokoriegel knabberte, während sie mit Farbstiften malte. Sie verhielt sich wie ein normales Kind, als hätte sie auf einen Schlag alles Schreckliche vergessen, was sie erlebt hatte. Sie antwortete auf Sofias vorsichtige Fragen, ohne von der Zeichnung aufzublicken.

Nicht nur ihr Bild, auch das Bild vor seinem geistigen Auge nahm Konturen an. Jelena und ihre etwas ältere Freundin Natascha hatten offenbar nicht in einem Waisenhaus gelebt, eher in einer Art Wohngemeinschaft, zusammen mit fünf weiteren Mädchen und einer wechselnden Gruppe Erwachsener. Aus Angst vor einem Rückfall wagten sie nicht zu fragen, was diese Leute mit ihnen angestellt hätten. Wichtig war zuerst einmal, das Haus zu finden. Seine Hoffnung schwand ein gutes Stück, als er erfuhr, dass die Kinder dort nur im Dvor, im Innenhof, spielen durften. Jelena hatte das Haus nur einmal kurz von außen gesehen, als sie zum Hotel gefahren wurde.

Die Zeichnung war fertig. Sie zeigte eine rote Fassade mit winzigen Fenstern, vier Stockwerke hoch, die unterste Reihe der Fenster vergittert. In der Mitte der Fassade befand sich ein schwarzes Loch, das offenbar das geschlossene Tor zur Straße darstellte. Im Hof standen sieben Strichmännchen, die sieben Kinder. Von den Erwachsenen fehlte jede Spur. Jelena blendete sie aus. Gregori konnte es ihr nicht verdenken. Ein vierstöckiges rotes Haus mit Innenhof – davon gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte in Sankt Petersburg.

»Gibt es noch etwas, was du am Haus oder in der Nähe gesehen hast, Jelena?«, fragte er.

Sie schluckte den Rest der Schokolade hinunter, leckte sich die Finger und dachte nach. Plötzlich griff sie zum schwarzen Stift und zeichnete etwas neben den Fenstern auf die Fassade. Es sah aus wie ein großes Strichmännchen, aber es besaß Hörner.

»Dyavol«, erklärte sie dazu. »Jemand hat den Teufel an die Wand gemalt.«

Ein Graffiti – im Innenhof, auch nicht gerade selten und nicht eben hilfreich, um das Haus zu finden.

»Erinnerst du dich sonst noch an etwas? Liegt das Haus vielleicht an einer großen Straße, an einer Kreuzung, fährt die Bahn vorbei?«

»Nein, nein, die Straße liegt an einem Kanal. Wir sind über eine Brücke gefahren.«

»Gibt es außen am Haus auch solche Graffiti wie der Dyavol?«

»Nicht wie der Dyavol, nur schwarze Striche.«

Die Kleine hatte eine Menge beobachtet, obwohl sie wahrscheinlich die ganze Zeit im roten Haus gefangen gehalten worden war.

»Danke, Jelena, du hast du uns sehr geholfen«, sagte Sofia.

Die Erleichterung war ihr anzuhören. Mit etwas Glück würden sie das Haus mit diesen Angaben finden. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Rotes Haus, Graffiti, Kanal – die Kombination weckte Erinnerungen. Im Moment, als ihm einfiel, woran er sich erinnerte, fragte Jelena:

»Gehen wir jetzt Natascha suchen?«

»Genau das machen wir«, platzte er heraus, bevor die beiden Damen etwas entgegnen konnten. Er streckte die Hand aus. »Kommst du mit? Wir brauchen deine Hilfe.«

Völlig überrumpelt, bearbeitete Sofia ihn mit strafenden Blicken.

»Ich glaube, ich weiß, wo wir suchen müssen«, beruhigte er.

»Das geht nicht!«, wehrte sich die Psychologin, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte.

»Doch, das geht«, widersprach er lächelnd. »Jelena möchte es so, und wir sind die Polizei.«

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Sofia, bevor sie in den Dienstwagen stieg.

»Es ist unsere einzige Chance«, gab er ebenso leise zu bedenken.

Jelena saß angeschnallt auf dem Rücksitz und sollte nichts von Unmut und Zweifel bemerken. Optimismus war jetzt angesagt.

»Wir werden deine Natascha finden«, behauptete er und lächelte dem Rückspiegel zuversichtlich zu, als er sich ans Steuer setzte.

Sofia saß eine Weile schweigend neben ihm, bis er nach rechts abbog, Richtung Neva.

»Wo fährst du hin?«

»Jedenfalls nicht auf den Newski-Prospekt, nicht jetzt, am Vorabend der weißen Nächte. Ich habe keine Lust auf ein Touristenmassaker.«

»Pass auf, was du sagst, wir sind nicht allein!«, zischte sie.

»Entschuldigung – aber es ist doch wahr. In diesen Tagen könnte man glauben, es gäbe keine andere Straße als den Newski-Prospekt in unserer Stadt.«

»Ist ja gut, fahr einfach weiter und halt die Klappe.«

»Achtung, wir sind nicht allein«, echote er grinsend.

Jelena kümmerte sich nicht um ihr Geplänkel. Sie war vollauf damit beschäftigt, das ihr unbekannte Treiben auf den Straßen an diesem Nachmittag zu beobachten. Nach dem Stau auf der Brücke schafften sie den Rest der Strecke bis zur Ulitsa Nalichnaya in zwanzig Minuten. Das alte Haus aus rotem Sandstein versteckte sich hier zwischen Blöcken aus rohem Beton. Deshalb war es ihm seinerzeit aufgefallen. Jelena hatte aufgehört, aufgeregt nach allen Seiten zu gucken und die Nase am Seitenfenster platt zu drücken. Sie saß merkwürdig still auf dem Sitz, mit eingezogenen Schultern, als erwartete sie Schläge. Weckte die Gegend unangenehme Erinnerungen? Er fuhr langsam am Kanal entlang, unsicher, in welcher Richtung sich das Haus befand.

»Suchen wir überhaupt auf der richtigen Insel?«, flüsterte Sofia so leise, dass er es kaum verstand.

»Zwei Uhr«, antwortete er, ohne den Kopf zu bewegen.

Er hatte das rote Haus vorne rechts jenseits der kleinen Brücke entdeckt. Es war auch Jelena nicht entgangen.

»Natascha!«, schrie sie und versuchte aufzuspringen. Mit beiden Händen zeigte sie auf das Haus am andern Ufer.

»Da wohnt ihr, du und Natascha – bist du sicher?«, fragte Sofia, immer noch skeptisch.

»Da, da, Natascha!«

Hätte der Gurt sie nicht zurückgehalten, sie wäre stracks aus dem Auto gesprungen.

»Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein«, versuchte er ihre Begeisterung zu dämpfen.

Jelena ließ sich nicht beeindrucken. Sie zerrte am Gurt, wollte ihn öffnen. Es gelang ihr nicht, also schlüpfte sie kurzerhand unter dem Gurt hindurch. Die Tür stand schon einen Spalt offen, bevor er anhielt. Sein Wagen, ein Lada Samara, der sein zehnjähriges Dienstjubiläum auch schon hinter sich hatte, war nicht für den sicheren Transport von Kindern ausgerüstet. Im letzten Moment gelang es Sofia, das Energiebündel aufzuhalten. Jelena kratzte und keifte. Plötzlich begann sie zu weinen und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Sofia setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Er rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Dienstwagen war nicht der Einzige, der sich nicht für Kinder eignete.

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