»Du willst es nicht kapieren, oder? Die Kleine ist total traumatisiert. Niemand weiß, was die Schweine mit ihr angestellt haben …«
»Schon klar, aber wer sagt uns, dass es männliche Schweine waren, dass sie Angst vor Männern haben soll?«
»Darum geht es doch nicht. Ich möchte es einfach so sanft und langsam wie möglich angehen. Wenn wir jetzt zu zweit einfahren, war‘s das vielleicht schon.«
Er verspürte ohnehin keine Lust auf die Psycho-Nummer, also gab er seinen Widerstand auf.
»Versuch‘s meinetwegen. Ich besorge mir etwas zu trinken.«
Er kehrte zum Kiosk zurück, der sich neben dem Eingang im Erdgeschoss befand. Nach kurzem Zögern nahm er ein ›Kvass‹ aus dem Regal. Das pasteurisierte, süße Zeug schmeckte ihm nicht, aber es schmeckte wenigstens nach etwas, nicht wie Wasser. Sein Großvater hatte ganz anderes ›Kvass‹ gebraut, das nach zwei Wochen Gärung am besten schmeckte. In einer Einrichtung für Seelenklempner konnte man natürlich keinen anständigen Drink erwarten. Mürrisch legte er die paar Münzen auf den Tisch bei der Kasse und wollte gehen, als ihm eine Schale mit ›Alenka‹-Riegeln auffiel. Er nahm zwei heraus, legte mangels Kleingeld einen Geldschein auf die Theke und wartete. Das Mütterchen an der Kasse rührte keinen Finger.
»Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile.
»Vielleicht fällt dem Herrn ja noch etwas ein«, keifte die Frau.
Russen genießen nicht, sie ertragen – er müsste es allmählich wissen.
»Wenn Sie keinen Wert auf mein Geld legen, konfisziere ich die Schokolade«, sagte er beiläufig und zeigte den Dienstausweis.
Der Geldschein verwandelte sich vor seinen staunenden Augen in ein paar Kopeken Wechselgeld. Das ging so schnell, dass er die Handbewegung des Mütterchens kaum wahrnahm.
»Spasibo.«
Er nickte ihr freundlich grinsend zu, steckte die Riegel ein und verließ ihr Königreich.
Sofias Methode schien nicht sehr erfolgreich zu sein. Er traf sie aufgeregt mit der Betreuerin diskutierend auf dem Flur vor dem Spielzimmer.
»Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, an die Kleine heranzukommen«, sagte sie händeringend.
Die Betreuerin, eine Kinderpsychologin, wie er auf dem Namensschild las, lächelte verständnisvoll.
»Ich weiß, es ist für Laien schwer zu verstehen, aber das Verhalten des Mädchens ist unter den gegebenen Umständen völlig normal. Es leidet unter einem schweren Schock. Darauf reagieren Kinder im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten. Die einen reden und hören nicht mehr auf, bis alles gesagt ist, was sie bedrückt. Andere schweigen wie ein Grab, weil sie nicht über das Erlebte sprechen können. Sie erinnern sich nicht, oder die Erinnerung ist so schmerzhaft, dass ihr Gehirn sie temporär verdrängt, ein Selbstschutzmechanismus.«
»Und wie lange dauert dieses Schweigen?«, wollte er wissen.
»Tage, Monate – ich weiß es nicht. Im Moment wären wir schon froh, sie würde wenigstens etwas essen. Wahrscheinlich verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Sie können nichts erzwingen.«
Sofia schüttelte den Kopf. »Ich versuch‘s trotzdem noch einmal.«
Diesmal ließ er sich nicht abwimmeln. Sie betraten das Spielzimmer, argwöhnisch beobachtet von der Psychologin. Das Mädchen saß in einer Ecke am Boden, eine Stoffpuppe auf dem Schoß, mit der es aber nicht spielte. Apathisch sah es den andern drei Kindern zu, die mit einer Betreuerin den Kinderreim »Soroka, Soroka« – »Elster, Elster« übten und dazu klatschten.
»Gibt es ein Zimmer, wo wir sie allein sprechen können?«, fragte er leise.
Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Hier fühlt sie sich einigermaßen geborgen. Warten Sie, ich schicke die Gruppe weg.«
Nachdem sie einige Worte mit der andern Betreuerin gewechselt hatte, forderte die ihre Kinder auf, ihr zu folgen. »Polonez« war das Stichwort, worauf das Grüppchen klatschend und tanzend das Zimmer verließ. Die Kleine mit der Puppe folgte mit den Augen, regte sich aber nicht. Sofia näherte sich vorsichtig, ging in die Hocke und begann ruhig zu sprechen, ein warmes Lächeln im Gesicht, soweit es das zuließ. Sie fragte nach dem Befinden und stellte ihren Partner mit Vornamen vor. Das Mädchen hörte stumm zu. Die Blicke ruhten abwechselnd auf den drei Erwachsenen. Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, sie kehrten häufiger zu ihm zurück als zu den zwei Frauen. Sofia deutete auf die Puppe und fragte:
»Verrätst du mir, wie sie heißt?«
Der Blick des Mädchens wanderte wieder zu ihm, als wüsste er die Antwort. Einer Eingebung folgend, sagte er:
»Lass mich raten. Heißt sie – Anastasia?«
Es war der erste Name, der ihm einfiel, außer Sofia. Die Kleine schüttelte fast unmerklich den Kopf, die erste Reaktion auf eine Frage. Ihre Augen hingen an seinen Lippen. Es blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Während er tief in seiner Erinnerung nach andern, beliebten Mädchennamen forschte, versuchte es Sofia mit Vorschlägen, die allesamt unbeachtet verhallten. Er war am Zug. In seiner Not erinnerte er sich an die Schokoriegel. Sein Gesicht strahlte wie das Mädchen mit dem Kopftuch auf der Verpackung, als er einen davon aus der Tasche zog und fragte:
»Heißt sie vielleicht – Alenka?«
Die Reaktion überraschte alle. Die Kleine packte den Riegel, legte ihn mit der Puppe neben sich auf den Boden, sprang auf und begann, sich zu entkleiden. Er erschrak dermaßen, dass er unwillkürlich zwei Schritte rückwärts taumelte und dabei fast seine Partnerin zu Boden riss. Das Mädchen hielt verstört inne, ein Glück für alle Beteiligten. Die Psychologin schien als Einzige zu begreifen, was geschah. Im Nu ließ sie den ›Alenka‹-Riegel verschwinden, zog das Mädchen sanft zu sich und sprach beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig bedeutete sie den Kommissaren mit energischen Handbewegungen, das Zimmer zu verlassen.
»Hat ja wunderbar geklappt«, fauchte Sofia ihn wütend an.
Noch immer perplex von der Reaktion des Kindes, hörte er nicht zu. Als Laie, der nicht einmal verstand, was in seinem eigenen Kopf vorging, begriff er nur, was offensichtlich war. Der Schokoriegel wirkte als Auslöser für das seltsame Verhalten, oder war es der Name Alenka?
»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
Es konnte nichts Gutes sein, schloss er aus dem Wetterleuchten in ihren Augen. Er brauchte nicht zu antworten. Die Tür ging auf. Die Psychologin, das Mädchen an der Hand und sichtbar erleichtert, winkte sie herein. Kaum im Zimmer, hörten sie das erste Wort aus dem Mund der Kleinen: »Natascha«.
»Du heißt Natascha?«, fragte Sofia erfreut.
Das Mädchen schüttelte den Kopf, streckte die freie Hand aus und wiederholte den Namen: »Natascha.«
Es kommunizierte, wenn auch einigermaßen rätselhaft. Wieder war es die Psychologin, die das Mädchen verstand.
»Die Puppe!«, rief sie aus. »Du meinst die Puppe. Sie heißt Natascha, nicht wahr?«
Das Mädchen wand sich los, holte die Puppe und presste sie ans Herz. »Natascha«, flüsterte es wiederholt. Tränen traten in seine Augen. Das Kind begann leise zu schluchzen.
»Es ist besser, wenn Sie uns jetzt wieder allein lassen«, flüsterte die Psychologin.
Rein, raus – allmählich verlor er die Geduld. Die Situation überforderte ihn. Nicht nur ihn, wie ihm Sofias Achselzucken auf seine Frage nach dem »Wie weiter?« signalisierte.
Er zog den zweiten Riegel aus der Tasche und hielt ihn Sofia hin.
»Alenka?«
Sie nahm die Schokolade ohne Zögern und begann schweigend zu essen. Sekunden später hatte sie das süße Zeug verschlungen und reichte ihm die zerknüllte Verpackung. Er rang sich ein ironisches Lächeln ab.
»Spasibo. Fahren wir zurück ins Büro?«
Sie schüttelte den Kopf und fand endlich die Sprache wieder.
»Jetzt nicht. Ich habe das Gefühl, sie wird bald reden nach deiner Schokotherapie.«
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