»Wie bitte?«
»Fünfhundert Euro mindestens für diese Länge und Qualität.«
Chris begann zu begreifen, dass sie das erste Mal im Leben etwas produziert hatte, was man verkaufen konnte. Während Jeanne den kümmerlichen Rest ihrer Haare wusch, um sie fürs Ausdünnen und Schneiden vorzubereiten, erfuhr sie mehr übers Geschäft, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Gesundes, langes Haar von Europäerinnen ist selten und gesucht. Es eignet sich besser für Perücken und Verlängerungen als Haar von Inderinnen, das zwar reichlich vorhanden ist aber erst aufwendig behandelt werden muss.
Vor dem Spülen legte Jeanne noch einmal eine Pause ein, begleitet von einem fragenden Blick. Chris winkte sie näher heran und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte:
»Ich bin schwanger.«
»Neiiin!«
Jeannes Ausruf der Überraschung ließ den Salon erstarren. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Beim nächsten Atemzug tauchte die Chefin bei ihnen auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
Chris lächelte verträumt. Nie zuvor hatte sie den Satz ausgesprochen, der ihr Leben auf den Kopf stellte: Ich bin schwanger. Nicht einmal Jamie ahnte etwas von ihrem Glück. Vielleicht glaubte er etwas zu ahnen, weil er mit ihr hoffte nach vielen vergeblichen Versuchen, aus Solidarität und Zweckoptimismus. Gewissheit hatte nur sie.
»Alles in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin noch einmal, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.
»Alles gut, es könnte nicht besser sein«, beruhigte sie.
Kaum waren sie wieder allein, begannen Jeannes Fragen auf sie einzuprasseln. Die neue Frisur entstand nebenbei aus dem Handgelenk. Wichtig war nur noch das eine Thema. Die Aufregung stand Jeanne ins Gesicht geschrieben, als wäre sie selbst schwanger geworden. Chris spielte eine Weile mit. Es tat ihr gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Sie sonnte sich im Gefühl, es gäbe nichts anderes Wichtiges mehr auf der Welt, alles drehte sich einzig und allein um das winzige Lebewesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.
»Sie werden doch jetzt nicht weiter Ganoven jagen«, sagte Jeanne unvermittelt, das nackte Entsetzen in den Augen.
Chris zuckte die Achseln. »Jemand muss es eben tun.«
»Aber – das Kind! Denken Sie an Ihr Kind! Was wird‘s denn, Junge oder Mädchen oder etwas dazwischen?«
Chris lachte laut auf. »Eine Überraschung. Es ist noch zu klein, um Farbe zu bekennen.«
Jeanne schnipselte und kämmte eine Weile schweigend weiter, bis sie innehielt und versonnen seufzte:
»Hach, ich beneide Sie.«
»Was glauben Sie, wie ich Sie manchmal beneide. Sie erschaffen Schönheit, machen Schönes noch schöner, können den ganzen Tag elegante Kleider und Schuhe tragen, ohne fürchten zu müssen, sie zu ruinieren, und haben erst noch geregelte Arbeitszeiten.«
Jeanne schüttelte traurig den Kopf. »Und was mache ich am Feierabend? Ich sitze einsam und verlassen in meiner tristen Einzimmerwohnung vor der Glotze.«
Chris musste dringend etwas Positives einfallen, damit sie sich wieder ihrem Kurzhaarschnitt mit schräger Ponypartie widmete.
»Gönnen Sie sich eine Reise – nach Paris zum Beispiel. Sammeln Sie schöne Erinnerungen. Die sind das Kostbarste, was es gibt.«
»Außer Kindern und einer Familie«, murmelte Jeanne fast unhörbar. Bevor Chris antworten konnte, fuhr sie mit bitterem Lächeln fort: »Paris war schon immer mein Traum.«
»Wollen Sie damit andeuten, noch nie dort gewesen zu sein?«
»Kann ich mir nicht leisten.«
»Ach was, Paris ist nicht teurer als Berlin, wenn man den Kaffee nicht gerade bei der Oper trinkt.«
Jeanne schüttelte entschieden den Kopf und drohte, die Arbeit an der Frisur ganz einzustellen.
»Sie haben ja keine Ahnung, Madame«, klagte sie. Die Hand auf der Brust, fügte sie an: »Die OP hat mich komplett ruiniert. Ich werde den Kredit wohl bis ans Lebensende abzahlen müssen. Nicht einmal die Farben der Saison kann ich mir leisten. Tragisch, nicht wahr?«
So melodramatisch sie sich ausdrückte, in ihrer Stimme und den Augen lag eine Traurigkeit, die Chris berührte. Jeanne war bei aller Exaltiertheit ein zutiefst unglücklicher und einsamer Mensch. Da ihr keine passende Antwort einfiel, endete die Unterhaltung abrupt. Jeanne widmete sich mit neuer Inbrunst dem Kunstwerk auf ihrem Kopf. Bisher hatte Chris den Blick in den Spiegel vermieden, doch jetzt, nachdem Jeanne eine letzte Strähne gebändigt hatte, musste sie in den sauren Apfel beißen. Eine fremde Frau sah sie an, deren Gesichtszüge sich langsam entspannten. Sie wagte gar ein Lächeln, denn was sie sah, gefiel ihr. Die neue Chris gefiel ihr so sehr, dass Jeanne sich heimlich eine Träne trocknen musste. Sie liebte die große Geste.
»Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, sagte sie, zufrieden mit ihrem Werk.
Sie sprach Chris aus der Seele.
Das schrille Geheul einer Polizeisirene drang durch die halb offene Tür in den Salon. Ein Rettungswagen raste auf der Straße am Fenster vorbei. Der Alltag hatte sie wieder. Sie griff automatisch zum Telefon, das sie stumm geschaltet und während der Verwandlung im Salon nicht beachtet hatte. Drei Anrufe aus dem Präsidium, eine SMS vom Kollegen Haase und eine Nachricht von Jamie. Der musste warten. Sie rief Haase an.
»Sie sollten sofort herkommen«, sagte er ruhig und emotionslos wie stets, wenn er nicht gerade Kaffee braute. »Es brennt.«
»Das Büro brennt?«
»Die Staatsanwaltschaft.«
»Besser.«
»Im Ernst, die Winter sucht sie schon eine ganze Weile. Sie hat ziemlich üble Laune.«
»Das ist ihr Normalzustand.«
Staatsanwältin Winter, die Eisprinzessin, hatte ihre Scheidung auch nach Jahren immer noch nicht überwunden, immerhin ein Zeichen, dass sie auch Gefühle besaß, negative zumindest.
»Ich muss leider zurück ins Büro«, entschuldigte sie sich bei Jeanne mit einem Seufzer.
Sie stand auf, betrachtete sich von allen Seiten im Spiegel und lobte das gelungene Meisterwerk. Ohne Zopf fühlte sie sich leicht, beschwingt gar und um Jahre jünger. Jeanne betrachtete sie in stiller Bewunderung ihrer Arbeit. Die Augen glänzten oder waren es Freudentränen?
»Was geschieht mit dem schönen Haar, Madame?«, fragte sie tonlos.
Chris hatte den alten Zopf beinahe vergessen. Die Zeit drängte, die beste Voraussetzung für gute Einfälle. Mit einem letzten Blick auf die verlorene Haarpracht sagte sie:
»Den Zopf schenke ich Ihnen.«
»Neiiin!«
Wieder hörte die Welt auf, sich zu drehen. Die Chefin materialisierte sich wie aus einer höheren Dimension. Bevor sie die Standard-Frage stellen konnte, bekräftigte Chris ihren Entschluss:
»Ich schenke den Zopf meiner Künstlerin Jeanne.«
Um deren drohende Ohnmacht zu verhindern, drängte sie zum Aufbruch. Zum Abschied flüsterte sie der Guten ins Ohr:
»Nicht zu billig verkaufen, Jeanne, mindestens fünfhundert – und grüßen Sie mir Paris.«
Jens Haase füllte neue Bohnen in seine Espressomaschine, als sie eintrat. Er blickte nur kurz auf.
»Sie wünschen?«
Danach widmete er sich wieder dem Kaffee, seiner großen Leidenschaft. Er kannte jede exotische Bohne und besaß sie auch.
»Herr Haase, Jens Haase?«, fragte sie lächelnd.
»Ja, was …«
Er stockte, starrte sie mit offenem Mund an, sprachlos. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sprechen gehörte nicht zu seinen Leidenschaften. Er war der stille Schaffer im Präsidium, mit allen nützlichen Datenbanken per du und gehörte, seit sie sich erinnern konnte, zum Inventar wie das Mobiliar – mit vergleichbarer Präsenzzeit. Sie vermutete schon lange, er wohne im Büro, hatte allerdings sein Bett noch nicht gefunden. Vielleicht brauchte er keins bei dem Kaffeekonsum.
»Bekomme ich auch einen Ristretto?«, fragte sie, um den Bann zu brechen.
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