Ein halberstickter Schrei ließ alle im Zimmer erstarren. Das Mädchen regte sich, sah das Blut, die toten Augen, die es anstarrten. Von panischer Angst ergriffen, schrie es lauter, strampelte verzweifelt, um sich von der Last zu befreien. Sofia reagierte als Erste.
»Sie lebt!«, entfuhr es ihr unwillkürlich.
Zusammen mit dem Arzt befreite sie die Kleine aus ihrer misslichen Lage, während sie ihr beruhigend ins Ohr flüsterte. Sie drückte sie sanft an ihre Brust, eine Hand schützend vor den Augen, damit sie die Leichen und das Blutbad nicht länger ansehen musste. Dann verließ sie mit ihr das Zimmer.
»Das Kind weist keine äußeren Verletzungen auf«, versicherte der Arzt.
Gregori brauchte die nächste Frage nicht zu stellen. Der Mediziner wusste ohnehin, was jedermann in dieser Situation auf der Zunge brannte. Er schüttelte den Kopf und sagte:
»Soweit ich ohne Untersuchung beurteilen kann, wurde sie nicht missbraucht.« Nach kurzer Pause fügte er leise hinzu: »Zumindest nicht dieses Mal.«
»Wurde sie betäubt?«
»Sieht ganz danach aus. Ohne Untersuchung kann ich allerdings nur spekulieren. Das ist nicht meine Baustelle. Ich bin Rechtsmediziner und beschäftige mich mit den Toten, wie Sie wissen, Colonel.«
Die Kleine war fürs Erste in guten Händen bei Sofia und den Kolleginnen von der Ambulanz. Jedenfalls hatte sie aufgehört zu schreien. Man hörte allerdings auch kein Wort von ihr. Sie schien eisern zu schweigen, was ihn nicht weiter erstaunte nach dem Schock.
»Was sagen die Toten?«, fragte er den Arzt, der gerade die Hände der Frau und den Revolver untersuchte.
»Es sind tatsächlich zwei Schüsse aus dieser Waffe abgefeuert worden, und die Hand der Frau weist Schmauchspuren auf.«
»Sie hat also erst ihren Mann und dann sich selbst erschossen?«
Gregori wollte trotz des Befundes nicht an diese Erklärung glauben. Weshalb wusste er selbst nicht. Das schiefe Grinsen auf dem Gesicht des Arztes erschien ihm daher wie ein Hoffnungsschimmer.
»Ich frage mich allerdings, wie die Frau das bewerkstelligt hat«, sagte der Arzt. Er schob das Haar am Hinterkopf der Leiche etwas auseinander. »Sehen Sie, was ich meine?«
Das blau angelaufene Hämatom war nicht zu übersehen.
»Wurde sie niedergeschlagen?«
Der Arzt nickte. »Und zwar mit einem harten, stumpfen Gegenstand und roher Gewalt, vermutlich mit einem Totschläger. Die Frau war kaum bei Bewusstsein, als sie die Kugel aus dem Revolver traf.«
»Mord, wusste ich‘s doch! Die ganze Szene ist gestellt, um einen Doppelmord zu vertuschen.«
Wieder nickte der Arzt und fügte an:
»Der Mann kann jedenfalls nicht geschossen haben, bevor er selbst von hinten erschossen worden ist. Es gab keinen Kampf. Der Schuss muss ihn völlig überrascht haben. Auch die Frau weist keinerlei Abwehrverletzungen auf.«
Das Team der Kriminaltechnik traf ein. Keine fünf Minuten vergingen, bis die beiden Geschosse sichergestellt waren. Beide tödlichen Schüsse stammten aus derselben Waffe, dem Revolver. Außer der Wunde am Hinterkopf der Frau gab es keine Spuren, die auf einen dritten Täter hindeuteten. Die Morde waren mit großer Präzision und Effizienz ausgeführt worden, eindeutig das Handwerk von Profis. Über Fingerabdrücke und DNA würden sie diesen Killer nicht identifizieren, war sich Gregori sicher. Ihre einzige Hoffnung ruhte im Moment auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Dumm nur, dass es auf dieser Etage keine gab. Kameras, die brauchbare Bilder lieferten, überwachten nur den Haupteingang, den Empfang und die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage. Die Befragung des Personals und der Zimmernachbarn auf der Etage ergab keine Hinweise auf Personen, die das Zimmer 412 betreten oder verlassen hatten. Alles andere hätte Gregori überrascht, Berufspessimist, der er war. Woher kam die Kleine? Irgendjemand musste sie hierher gebracht haben, denn sie hatte nicht mit den Meiers eingecheckt – der Mörder?
Die Pässe bestätigten die Identität des Ehepaars. Ausländer aus dem reichen Westen, die sich in Sankt Petersburg Kinder beschafften für illegale Adoptionen oder um ihre pädophilen Fantasien auszuleben, waren leider nichts Ungewöhnliches. Amerikaner und Deutsche gehörten zu den Spitzenreitern. Mit Dollar und Euro ließ sich alles problemlos kaufen in seinem Land, dachte Gregori bitter. Früher hatte er sich bei jedem neuen Fall maßlos darüber geärgert, bis ihn ein vorwitziger Praktikant, der sonst zu nichts taugte, mit einem weisen Spruch aufklärte: Es ist sinnlos, sich über etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann. Seither war er bescheidener geworden, versuchte nicht mehr, die Welt zu verbessern. Er beschränkte sich darauf, seine Arbeit mit Anstand zu erledigen. So, dass er morgens in den Spiegel schauen konnte, ohne sich zu ekeln. Er war daher nicht sonderlich beliebt bei vielen Kollegen, die gerne mal die Hand aufhielten, aber auch darüber war er längst hinweg.
»Mir will nicht in den Kopf, dass niemand die Schüsse gehört hat«, sagte Sofia, die eben zur Tür hereinkam.
Da ihm keine passende Antwort einfiel, erkundigte er sich nach der Kleinen.
»Das Betreuungsteam kümmert sich jetzt um sie. Wie es aussieht, hat sie wohl Glück im Unglück gehabt und die Morde verschlafen.«
»Sagt sie etwas?«
Sofia schüttelte traurig den Kopf. »Kein Wort. Sie verschließt sich wie eine Auster. Es wird wohl dauern, bis wir sie identifizieren und befragen können.«
»Wir müssen die Leute im Hotel ausquetschen. Vielleicht kennt sie ja jemand.«
Sofia warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Die Befragung ist längst im Gang, bisher ohne Ergebnis. Wir gehen auch an die Presse.«
Er nickte nachdenklich und brummte:
»Wenn es das ist, was ich vermute, werden sich die Verantwortlichen hüten, bei uns anzutanzen.«
»Wir müssen mit Berlin sprechen. Machst du das?«
Die Kollegin, die sich um die Überwachungskameras kümmerte, unterbrach sie:
»Wir haben sie!«
Sie zeigte eine Szene der Kamera am Haupteingang auf dem Laptop, aufgenommen vor einer guten Stunde. Die Kleine war deutlich zu erkennen in ihrem auffälligen Kleid. Eine ältere Frau, deren Gesicht ein weißes Kopftuch halb verdeckte, führte sie an der Hand.
»Die Fahndung nach der Frau läuft«, beeilte sich die Kollegin zu versichern. »Sonst ist sie nirgends auf einer Aufzeichnung zu sehen.«
Gregoris Puls schnellte in die Höhe.
»Sie ist noch im Haus?«, rief er elektrisiert.
»Vielleicht – wir brauchen aber mehr Leute für die Durchsuchung.«
Die Kollegin trug die Bemerkung leise vor, als äußerte sie einen unverschämten Wunsch. Wütend bellte er ins Funkgerät, um Verstärkung anzufordern. Das Hotel musste augenblicklich abgeschottet werden, dass keine Ratte mehr durchkam. Ein frommer Wunsch und wahrscheinlich zu spät. Er wusste es, aber versuchen musste er es trotzdem.
»Die Frage hat sich wohl erübrigt«, seufzte Sofia und wandte sich ab.
Er erinnerte sich an keine Frage.
»Wohin gehst du?«
»Zurück ins Büro, Berlin anrufen.«
»Nett von dir.«
»Haha – Colonel Makarov scheint heute auch seinen witzigen Tag zu haben.«
Nicht unbedingt, aber ihr Englisch war bedeutend besser als seins. Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, brach auch er auf. Das Hotel war nicht allzu groß, die Durchsuchung bald abgeschlossen. Von der Frau mit dem weißen Kopftuch fehlte jede Spur, und es gab keinen Hinweis auf eine ähnliche Person, die das Hotel im fraglichen Zeitraum verlassen hätte. Solang die Kleine schwieg, tappten sie völlig im Dunkeln. So sah es aus.
Sofia hing am Telefon, als er ins Büro zurückkehrte. Sie sprach Englisch. Berlin war am Draht. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich angenehmere Arten vorstellen konnte, sich die Zeit zu vertreiben. Missmutig schaltete sie auf Lautsprecher, damit er mithören konnte.
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