Will sah sie verwirrt an. Unvermittelt schoss ihm die Röte ins Gesicht. Erschrocken musste er feststellen, dass sie ausnahmsweise recht hatte. Seine Frau Marlene hatte ihn seinerzeit zwar mehrfach eindringlich daran erinnert, aber irgendein innerer Widerstand hatte wohl dafür gesorgt, dass er es immer wieder auf die lange Bank geschoben und am Ende schlicht vergessen hatte.
Will geriet ins Stottern, als er versuchte, Bettinas bohrendem Blick standzuhalten. „Das ist nicht ganz falsch, was Sie da sagen. Aber die Sache ist die … diese Präsentkörbe sind eine relativ neue Sitte hier bei uns. Und da wird immer viel drüber diskutiert … wegen die Kosten und so. Aber umso mehr freut es mich, Sie mitzuteilen, dass ich beim Ortsvorstand gegen einige Widerstände durchsetzen konnte, dass Sie im Nachhinein doch noch Ihr ganz persönlicher Korb bekommen, quasi posthum. Ich wollte die Katze zwar gleich erst aus der Sack lassen, aber komm … ist egal. Dann sag ich’s jetzt. Ich habe Ihren lang herbeigesehnten Korb draußen im Auto. Ich geh den mal schnell holen.“
Als Will den Korb vom Rücksitz auf den Bürgersteig gewuchtet hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Gerade noch mal gut gegangen, dachte er, während er den Zettel mit der Aufschrift ‚Fredi Jaspers‘ abriss und zerknüllt in seiner Parkatasche verschwinden ließ. Mit gespielter Freude trug er den Präsentkorb zum Haus und überreichte ihn feierlich Bettina Hebbel, die ihn schon an der Tür in Empfang nahm.
„Danke“, sagte sie, immer noch sichtlich überrascht.
„Aber nicht doch. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit“, wiegelte Will ab. Da ihm die ganze Situation ein wenig unangenehm war und er weiteren Nachfragen aus dem Weg gehen wollte, sah er auf seine Uhr und rief mit gespieltem Entsetzen aus: „Ach Gott, schon so spät! Ich muss wieder zurück. Die von dem Wanderzirkus brauchen meine Hilfe. Ich wünsche Sie noch einen wunderschönen Tag hier in Saffelen, Frau Hebbel.“ Bettina sah dem Landwirt hinterher, wie dieser schnell in seinen Mercedes sprang und davonfuhr. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Als sie voll bepackt in die Küche zurückkehrte, sagte sie: „Das ist vielleicht ein komischer Kauz, dieser Hastenraths Will.“
Kleinheinz, der gerade dabei war, seinen Korb auszupacken, lächelte sie gütig an. „Ach, so schlimm ist der gar nicht. Du wirst dich schon noch an seine Art gewöhnen. Hart, aber herzlich. Hey, schau mal hier.“ Er zielte lachend mit einer Spielzeugpistole auf sie und legte sie wieder auf den Tisch. „Oder hier.“ In der einen Hand hielt er einen Satz Plastikhandschellen und in der anderen eine Tube Haargel. „Da siehst du mal, was der Will sich für eine Mühe gegeben hat. Hier sind jede Menge Sachen mit persönlichem Bezug drin. Der hat sich sogar meine Lieblingsmarke gemerkt.“
„Das ist aber jetzt wirklich mal toll“, musste Bettina erstaunt zugeben und machte sich neugierig daran, auch ihren Korb auszupacken. Mit zunehmendem Erstaunen förderte sie einen persönlichen Gegenstand nach dem anderen zutage und legte diese nebeneinander auf den Tisch. Am Ende lagen dort: das Kicker-Sonderheft, eine Flasche Doppelkorn, ein Playboy-Jahreskalender mit daran festgetackerten Tempotaschentüchern sowie eine Turnierpackung Kondome. Sprachlos vor Entsetzen sah sie ihren Freund an.
Kleinheinz zuckte nur verlegen mit den Schultern und sagte: „Na ja, er kennt dich ja auch noch nicht so gut.“
Attila warf seinen ganzen Körper gegen die Gitterstäbe und bellte aus Leibeskräften, als Will auf den Innenhof fuhr und aus seinem Wagen stieg. Normalerweise hatte er immer ein nettes Wort oder ein Leckerchen für seinen Hofhund zur Hand, aber diesmal war er noch zu sehr in Gedanken bei der peinlichen Situation mit dem Willkommensgeschenk, die er so gerade noch hatte retten können. Für Fredi Jaspers würde er sich jetzt natürlich etwas anderes ausdenken müssen, denn wenn er einen neuen Präsentkorb zusammenstellen würde, könnte seine Frau Verdacht schöpfen. Erfreut nahm Will zur Kenntnis, dass dem gekippt stehenden Küchenfenster wohltuende Gerüche entschwebten, was darauf hindeutete, dass Marlene bei der Zubereitung des Abendessens kurz vor der Vollendung stand. Deshalb nutzte Will die Gelegenheit, sich schnell noch mal auf die Rückseite des Hofes zu schleichen, wo er neben dem stillgelegten Hühnerstall bereits zum zweiten Mal an diesem Tag die geheimen Zuleitungen für Strom und Wasser kontrollierte. Sicherheitshalber legte er zusätzlich zum Stroh noch eine verwitterte Holztür über die Anschlüsse. Marlene würde es nämlich überhaupt nicht gutheißen, dass Will die Gaukler, wie seine Frau sie nannte, neben der Wiese auch noch kostenlos mit Wasser und Strom versorgte. Aber Will konnte nun mal nicht anders. Er schritt ein weiteres Mal die Schläuche und Leitungen ab, die zum Zelt und zum Wagenpark führten, und achtete darauf, dass alles gut mit Gras bedeckt war. Plötzlich endete sein Weg vor einem Sichtzaun, der am Morgen noch nicht an dieser Stelle gestanden hatte. Er wollte gerade wieder umkehren, als er hinter dem Zaun eine seltsam betörende Musik vernahm, die in ihm erneut diese Neugier auslöste, wie es nur der Zirkus vermochte. Er prüfte vorsichtig die PVC-Plane, aus der der Zaun bestand. Er hatte Glück. Nach ein paar Metern fand er etwa auf Kniehöhe ein Loch, gerade groß genug, um unbemerkt hindurchzusehen. Will blickte sich um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er ganz allein war, kniete er sich behutsam ins feuchte Gras und spähte durch das Loch. Was er zu sehen bekam, beschleunigte schlagartig seinen Puls. Unmittelbar vor seiner Nase tanzte eine wunderschöne Frau zu der exotischen Musik, die aus einem CD-Player kam, der etwas weiter entfernt auf dem Boden stand. Die Tänzerin hatte hüftlanges, pechschwarzes Haar, ein Gesicht wie in Marmor gemeißelt und einen wohlgeformten, durchtrainierten Körper. Sie war zwar bei Weitem keine zwanzig mehr, aber sie war von einer wilden, ungezähmten Schönheit, die alle Jahre überdauert. Ihr Kostüm, wenn man es denn so nennen konnte, raubte Will schier den Atem. Der Oberkörper wurde nur von einem goldenen Büstenhalter bedeckt, der wie auf ihre Brüste gemalt wirkte. Um einen ebenfalls goldenen Slip lag eine Art Hüftband, an dem ein transparenter Schleier befestigt war, der ihre makellosen, langen Beine wie ein luftig-leichter Windhauch umschwebte. Auf nackten Füßen tanzte sie durch einen kleinen, mit Sägemehl gefüllten Kreis. Mit geschlossenen Augen bewegte sie ihren Körper rhythmisch zur Musik. Der Tanz, den sie aufführte, war eine Mischung aus Tangoschritten, Ballett und Gymnastik. Sie drehte sich, sprang in die Luft, ging in die Knie, zeichnete mit den Füßen eine Acht auf den Boden. Währenddessen warf sie immer wieder bunte Tücher in die Höhe und fing sie im Einklang mit ihren fließenden Bewegungen schlafwandlerisch sicher auf. Sie tanzte so nah vor der Plane, dass Will sogar ihr Parfüm riechen konnte. Ein erotischer Duft, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Bislang war ihm, abgesehen von Tosca, dem Lieblingswässerchen seiner Frau, ausgesprochen selten etwas derart Aphrodisierendes in die Nase gestiegen. Auf Wills Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. Entrückt beobachtete er die Tänzerin, bis er plötzlich von einem Geräusch aufgeschreckt wurde. Ein männlicher Artist – jedenfalls deutete seine hautenge, Las-Vegasmäßige Kostümierung darauf hin – hatte den CD-Player ausgestellt. Die Tänzerin erschrak. Das gerade in der Luft befindliche Tuch segelte langsam zu Boden und verfing sich unmittelbar vor Wills Guckloch in dem Draht, mit dem die Plane befestigt war.
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