Wegen der Angst vor einem Seilriss waren nicht nur die Baubehörden Aufzügen gegenüber skeptisch, auch die Liftbenutzer trauten der Sache nicht über den Weg. Aus Sicherheitsgründen bevorzugte man hydraulische Lifte. Bei dieser Vorrichtung sitzt die Kabine auf hydraulischen Stangen, die sie langsam in die Höhe heben. Die Nachteile dieser Konstruktion sind unter anderem, dass eine entsprechende Vertiefung im Boden für die Stangen ausgehoben werden muss, die Geschwindigkeit der Fahrkabine relativ langsam ist und nur eine geringe Zahl von Stockwerken abgedeckt werden kann.
Tatsächlich war die Angst vor einem Seilriss völlig unbegründet. Es gibt bis vor dem Ersten Weltkrieg nur einen Bericht über einen tödlichen Unfall, bei dem die Kabine abgestürzt war. Und dieser Fahrstuhl war hydraulisch betrieben worden. Im Pariser Grand Hotel starben am 24. Februar 1878 drei Personen, ausgelöst durch technisches Versagen. Ein Gussstück, mit dem die hydraulische Stange unten an der Fahrstuhlkabine befestigt war, war gebrochen. Das Gegengewicht der Kabine hatte diese nun getrennt von der hydraulischen Stange mitsamt dem Hotelverwalter, dem Liftboy und einem Hotelgast unkontrolliert in den letzten Stock befördert. Dort riss beim Zusammenprall mit der oberen Begrenzung die am Kabinendach befindliche Kabelverbindung, woraufhin die Kabine in die Tiefe stürzte und unten zerschmetterte.
Eine größere Gefahr ergab sich nicht durch die Fahrt mit der Kabine selbst, sondern beim Ein- und Aussteigen. Die heute üblichen Schiebetüren waren erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommen. Vorher waren es vor allem Gittertüren gewesen, die manuell bedient werden mussten und die Kabine sicherten. Diese Gitter konnten auch dann geöffnet werden, wenn keine Fahrstuhlkabine bereitstand. Das führte dazu, dass immer wieder Menschen in die Tiefe stürzten. So ein Unfall ereignete sich im Warenhaus „Gerngroß“ auf der Mariahilferstraße in Wien, wie die Wiener Zeitung am 15. Mai 1916 zu berichten wusste: 5
Der 47-jährige Angestellte Karl Rudolf wollte den Fahrstuhl benützen, um in den zweiten Stock zu fahren. Als der Fahrstuhl zwischen dem zweiten und dritten Stocke schwebte, stürzte Rudolf in die Tiefe des Schachtes und blieb mit schweren Verletzungen tot liegen. Es wird vermutet, daß Rudolf der Meinung war, der Fahrstuhl halte noch im zweiten Stock, während er sich bereits nach dem dritten Stock in Bewegung gesetzt hatte. Rudolf dürfte versucht haben auszusteigen und hierbei in die Tiefe gestürzt sein.
Wenn die Fahrstuhltüren die Benutzer nicht vor dem Absturz schützten, dann töteten sie diese manchmal gleich selbst. So berichtet das Neue Wiener Journal am 13. August 1904 von einem „schrecklichen Unfall“ in Berlin, den Prinz Friedrich Leopold als Augenzeuge miterlebte: 6
Ein entsetzlicher Fahrstuhlunfall hat sich heute Nachmittags um 4 Uhr vor den Augen des Prinzen Friedrich Leopold zugetragen. Der Prinz, der bekanntlich in den nächsten Tagen Potsdam verläßt, um nach Ostasien abzureisen, besuchte heute die Firma Tippelskirch & Comp. in der Potsdamerstraße, um eine Reiseausrüstung zu besichtigen. Darauf bestieg der Prinz mit seinem Adjutanten den Fahrstuhl, der vom Wärter in Bewegung gesetzt wurde. Der Wärter macht einen Fehltritt und gerieth mit seinem Körper zwischen den Lift und die eisernen Schienen. Man brachte den Fahrstuhl sofort zum Stehen und alarmirte die Feuerwehr. Es dauerte lange Zeit bevor es gelang, den Unglücklichen aus seiner furchtbaren Lage zu befreien. Bald nach seiner Befreiung starb der Unglückliche unter den Händen der herbeigeholten Aerzte. Erst dann wurde der Prinz und der Adjutant aus dem Fahrstuhl gebracht.
Wenigstens war der Prinz unversehrt geblieben. Erst um das Jahr 1890 herum konnte mittels einer neuen Erfindung – elektrische Kontakte in den Türen und Kabinen – das Problem des unbeabsichtigten Türöffnens gelöst werden.
Weniger offensichtlich, aber doch besorgniserregend waren andere Auswirkungen, die durch diese Technologie hervorgerufen worden waren: die „Aufzugskrankheit“. Im Jahr 1890 wurde dieses Syndrom im Scientific American zum ersten Mal vorgestellt.
Der Aufzug in modernen großen Gebäuden hat nur einen Nachteil, nämlich die Krankheit, die er verursacht, wenn die Kabine plötzlich angehalten wird. Für Menschen mit einer empfindlichen Konstitution ist diese Krankheit oft eine so ernste Angelegenheit, dass der Aufzug für sie ein gefährlicher Segen ist. … Der Stillstand der Aufzugskabine bringt Schwindel im Kopf und manchmal Übelkeit im Magen mit sich. Die inneren Organe wollen in der Kehle aufsteigen.
Ähnliche Beobachtungen wurden schon Jahrzehnte vorher bei der ersten Benutzung von Eisenbahnen beobachtet, bei der manche Fahrgäste an nervösen Irritationen zu leiden begonnen hatten. Selbst wenn die Benutzung von Aufzügen üblich geworden war, so doch vor allem zum Hochfahren. Den Abstieg machte man nach wie vor über das Treppenhaus – bis die ersten forschen „Abenteurer“ den Aufzug auch zum „gefährlichen Runterfahren“ zu benutzen begannen. So schildern in der zweiten Fallstudie in Sigmund Freuds und Josef Breuers „Studien zur Hysterie“ die Autoren von einer plötzlichen neurotischen Episode bei der Patientin „Emmy v. N.“:
Auf Nachfrage erzählt sie, dass sich die Pension, in der die Kinder hier wohnen, im fünften Stock befindet und mit dem Aufzug erreichbar ist. Gestern bat sie die Kinder, den Aufzug auch für die Abfahrt zu benutzen, und wirft sich nun vor, dass der Aufzug nicht ganz zuverlässig sei. […]
Wie auch immer, vier Jahre nach ihrer ersten Erwähnung im Scientific American zitierte die Washington Post einen Arzt aus Chicago mit den Worten:
Die Fälle von Aufzugskrankheit nehmen zu. Sie wird jetzt gut definiert. Ihre Auswirkungen finden sich in einer erhöhten Anzahl von Fällen von Gehirnfieber und gestörtem Nervensystem.
Diese zuversichtliche Bekanntgabe der Ergebnisse des Chicagoer Arzt war offenbar die letzte Erwähnung der Krankheit in amerikanischen Publikationen. Rechtzeitig mit dem Verschwinden dieses Syndroms hatte bereits ein anderes seinen Platz eingenommen – und ist geblieben: Klaustrophobie. Die Angst vor engen geschlossenen Räumen wurde das erste Mal zwischen den Jahren 1870 und 1880 erwähnt, also genau dann, als Aufzüge vermehrt zum Einsatz kamen.
Fahrstühle waren auch der Schauplatz einer Reihe von Begegnungen und Geschichten. Das Buch „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull “ von Thomas Mann hat den Lift in einem Pariser Grand Hotel als zentralen Schauplatz, in dem Felix Krull als Liftboy arbeitet. Der Film „Abwärts“ aus dem Jahr 1984 handelt von vier Personen, die an einem Freitagabend in einem Frankfurter Bürohochhaus im Aufzug stecken bleiben und während des stundenlangen Wartens ihre Hölle miteinander und durch sich erleben. In vielen Actionfilmen mit von Jackie Chan, Angelina Jolie oder Jason Statham gespielten Helden sind Aufzugskabinen und Liftschächte Orte dramatischer Kämpfe auf engstem und gefährlichem Raum.
Spezielle Herausforderungen stellten Aufzüge für höfische Etikette und Protokolle dar. Zuerst ist da einmal die Frage zu klären, ob man in einem Aufzug den Hut abzunehmen hat oder nicht oder wie eng man zusammensteht. Ist das noch ein öffentlicher oder mehr ein privater Raum? Die ersten Aufzüge waren wie Zimmer eingerichtet, mit einem Sofa, Kandelabern und aufwendigen Glasverzierungen. Delikater war das, wenn wir von Herrschenden sprechen. Die Hochzeit der einzigen Tochter von Kaiser Wilhelm II., Prinzessin Viktoria Luise, im Jahr 1913 war die Quelle großer Sorge. Das beste Hotel in Berlin, das Hotel Adlon am Pariser Platz, sollte 800 hochrangige Gäste aus aller Welt beherbergen. Die Komplikation kam – wie kann es anders sein? – durch den Aufzug und die Attitüden der feinen Herrschaften zustande.
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