Die 1970er sind also auch nicht ganz so toll, wie unsere Erinnerungen es uns weismachen wollen. Für mich allerdings schon, denn ich wurde im Jahr 1971 geboren. Wir wäre es mit 100 Jahren davor, mit dem Jahr 1870? Da war Deutschland noch in kleine Herzogtümer aufgeteilt und sollte den deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 nutzen, um mit dem Deutschen Bund zum ersten Mal ein vereinigtes Reich deutschsprachiger Staaten zu gründen. Die von den Franzosen abgepressten Reparationszahlungen führen zur Gründerzeit in Deutschland, langfristig aber zu weiteren, noch blutigeren Konflikten mit dem Nachbarn.
Transportmittel der Wahl waren nach wie vor das Pferd und die Kutsche, auch wenn die Eisenbahn und die Dampfmaschine einen rapiden Wandel losgetreten hatten. Damit gewann die industrielle Revolution an Geschwindigkeit, die eine Migration vom Land in die Städte zur Folge hatte. Viele Städte vervielfachten ihre Bevölkerungszahlen in nur wenigen Jahrzehnten und die Lebensbedingungen in den überforderten Städten unterschieden sich nicht viel vom Mittelalter. Erst zu diesem Zeitpunkt sollten die Stadtväter fundamental den Charakter ihrer Städte zu ändern beginnen.
Auch war man lieber nicht eine Frau, die vor der Entbindung stand. Die Theorien zu Viren und der Übertragung von Krankheiten befanden sich erst im Entstehen – und damit auch das Verständnis, wie wichtig Hygiene für die Gesundheit ist. Einige Ärzte wie Ignaz Semmelweis hatten erkannt, dass von Ärzten, die aus der Pathologie kamen, offenbar Krankheiten an entbindende Frauen weitergegeben wurden, sodass diese im Kindbett verstarben. Impfungen waren bereits bekannt, wurden allerdings noch mit Misstrauen beäugt.
Egal, welches Jahrzehnt in der Vergangenheit wir wählen und welches Jahrhundert oder sogar Jahrtausend wir betrachten, wenn wir – um den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu zitieren – uns auszusuchen hätten, wann wir geboren sein wollen, aber keinen Einfluss darauf hätten, ob als Mann oder Frau, in welchem Stand und in welches Land, wir würden mit hoher Wahrscheinlichkeit die heutige Zeit wählen. Und sollten wir doch – wider besseren Wissens – den Knopf für eine andere Epoche drücken, wir würden sehr bald unsere Entscheidung auf das Bitterste bereuen. Auch Gil Pender akzeptierte nach seinen Pariser Zeitreisen seine eigene Epoche als das, was sie ist: brutal wirklich, noch nicht nostalgisch verklärt und die beste aller Zeiten, die er noch beeinflussen und mitgestalten konnte.
Innovationen der Vergangenheit und damalige Reaktionen
Wie die Geburten der Lebewesen zunächst unförmig sind, so sind alle Neuerungen, die die Geburten der Zeit sind.
Sir Francis Bacon
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirō ein kleines Pamphlet verfasst, in dem er auf die japanische Ästhetik einging und seine Meinung in einer recht ungeordneten Weise kundtat. Gerade dieser in Japan geschätzte Stil einer nonchalanten literarischen „Unstruktur“ fand bei seiner Leserschaft Anklang. Tanizaki reflektierte in „Lob des Schattens“ über das langsame Verschwinden des japanischen Stils durch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts begonnene Öffnung des Landes zum Westen hin. Für ihn war besonders der Verlust der Bauweise und der Innengestaltung japanischer Häuser beklagenswert. Er schildert seine Versuche, trotz moderner Glasfenster seinem Haus den Anschein traditioneller verkleideter Papieröffnungen zu geben – und scheitert kläglich, da er weder den japanischen noch den modernen westlichen Effekt erreicht. Auch lässt sich Tanizaki über die beste Art aus, wie die elektrischen Leitungen am wenigsten sichtbar einzubauen sind und klagt, dass moderne Glühbirnen nicht den heimeligen Schein alter Öllampen verbreiten. Das Dunkel in traditionellen japanischen Häusern zog er den lichtdurchfluteten neuen Gebäuden vor, weil diese das Geheimnisvolle bewahrten.
Auch wenn er den Lesern immer wieder versichert, dass dies der Lauf der Zeit sei, so ist seine Nostalgie für das verschwindende Alte nicht zu übersehen. Wie auch immer, er schien einen Nerv bei seinen Landsleuten getroffen haben, das Pamphlet erreichte einige Popularität.
Einige Jahre später bestellte Tanizaki einen Architekten zu sich, der ihm ein neues Haus bauen sollte. Der Architekt kam und teilte Tanizaki mit Stolz mit: „Ich habe ihr ‚Lob des Schattens‘ gelesen, Mr. Tanizaki, und ich weiß ganz genau, was Sie möchten.“ Der überrumpelte Tanizaki antwortete: „Aber nein, ich könnte doch nie in solch einem Haus leben!“ 3
Der Komfort der Gegenwart war selbst dem Nostalgiker Tanizaki wichtiger. Die Retrospektive verklärt, die Prospektive erschreckt. Die nächsten Kapitel bringen eine Reihe von amüsanten und doch nachdenklich machenden Beispielen aus der Zeit unserer Vorväter und -mütter, die vor Neuerungen standen, die sie damals so bewegten wie uns heute künstliche Intelligenz, Selfies oder Roboter.
Sehen wir uns ein paar Innovation aus der Vergangenheit an, die wir heute wie selbstverständlich hinnehmen: den Fahrstuhl, den Mülleimer, die Impfung, den Regenschirm, den Teddybären, das Stethoskop, den Spiegel, Elektrizität und in einem Spezialkapitel die „Krankheiten“, die sie verursachen.
Die Hochzeitsnacht im bewegten Raum
Für deutsche Ingenieure stellten Fahrstühle nicht die Novität dar, wie sie es in den USA Ende des 19. Jahrhunderts waren. Hierzulande wurden die angepriesenen Fahrstühle eher als „Kinderspielzeug“ denn als ingenieurstechnische Herausforderung betrachtet. Schließlich waren Lifte für mehrstöckige Gebäude vergleichsweise langsam und überwanden nur geringe Höhen. In den deutschen Kohlegruben mussten die Seilaufzüge Tausende Meter unter Tage überwinden – und das ziemlich rasant. Schafften die ersten Fahrstühle in Gebäuden eine Geschwindigkeit von 1,5 Metern pro Sekunde, waren es um das Jahr 1890 zwischen drei bis fünf Meter. 4
Kein Vergleich zu den mehr als zehnmal so schnellen Grubenliften. Diese durften aber von den Bergleuten selbst nicht benutzt werden, sondern waren ausschließlich für den Materialtransport zugelassen. Zu häufig rissen die Seile, obwohl sie regelmäßig genauestens inspiziert wurden. Diese Seilrisse in Ländern mit vielen Kohlengruben riefen andere Ängste hervor als in den USA, wo es mit Ausnahme des Gold Rushs ab dem Jahr 1849 keine historisch lange kollektive Erinnerung an Grubenunglücke dieser Art gegeben hatte. Erst die Verwendung von Stahlseilen ab Mitte des 19. Jahrhunderts rief auch bei den Bergleuten keine Angst vor Seilrissen mehr hervor.
Deutschland zählte zu den Aufzugpionieren. So hatte der aus Jena stammende Mathematiker Erhard Weigel in seinem im Jahr 1670 errichteten siebenstöckigen Haus eine Besonderheit eingebaut. Es handelte sich um einen mit Flaschenzügen betriebenen Aufzug. Apropos Flaschen: Die brauchte man in diesem Haus nicht, er hatte sich nämlich auch eine Weinleitung direkt aus dem Keller legen lassen.
Auch die österreichische Kaiserin Maria Theresia, die von 1740 bis 1780 regierte und in ihrer Regierungszeit nicht nur 16 Kinder gebar und Kriege führte, sondern auch bei Mahlzeiten immer kräftig zugeschlagen hatte, war in ihren letzten Lebensjahren bereits durch Krankheiten so geschwächt, dass sie die Stufen der Wiener Kapuzinergruft, in der die Habsburger Kaiser begraben liegen, nicht mehr bewältigen konnte. Für sie ließ man einen kleinen Lift einbauen, der es ihr ermöglichte, in der Krypta ihrer Eltern zu beten.
Um das Jahr 1850 wurden die ersten Lifte in den USA eingebaut, um das Jahr 1870 waren alle größeren Hotels an der Ostküste mit solchen ausgestattet, und um das Jahr 1890 gehörten sie fast schon zur baulichen Standardausrüstung. Dabei veränderten sie nicht nur die Bauweise und Bauhöhe, sondern auch, was als „Beletage“ in einem Gebäude galt. Bis zum Siegeszug des Aufzugs beschränkte sich die Höhe von Gebäuden auf sechs oder sieben Stockwerke, wobei die besten Wohnungen im ersten oder zweiten Stock lagen und die schlechtesten unter dem Dach. Mit dem Aufzug konnten Häuser nicht nur in die Höhe wachsen – und das um einen zentralen Aufzugsschacht, der bei Neubauten dann als Erster errichtet wurde. Auch die besten Wohnungen befanden sich ganz oben, weit weg vom Straßenlärm und Schmutz, mit Zugang zu viel Licht und gutem Ausblick.
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